Zurück nach Tanglewood. In seiner prachtvollen Villa Seranak auf einem alles überblickenden Hügel oberhalb eines kleinen Sees hielt Koussevitzky acht Wochen lang vor und nach den Konzerten Hof. Die weiße Holzvilla, in den Bäumen versteckt, mit einer Reihe von Schaukelstühlen auf der Terrasse – wie im Marilyn Monroe/ Billy Wilder-Klassiker Some like it Hot – wurde schon bald sommerlicher Treffpunkt der Musikelite von Boston und New York. Noch heute können Besucher in der Villa Seranak Memorabilien des schillernden Tanglewood-Gründers bestaunen: Im ehemaligen Schlafzimmer ruhen im Schrank die eleganten Anzüge des Maestros, neben dem Hundewaschbecken im Entrée hängt der Strohhut, den der Maestro noch während seiner letzten Spaziergänge getragen hat.
Neben der nahen Mount Pleasant Church, heute eine beliebte Hochzeitslokation gutsituierter Amerikaner, fand Serge Koussevitzky seine letzte Ruhestätte. Erst im Alter von 65 Jahren hatte er zu unterrichten begonnen. Sehr bald schon hatte sich eine enge Freundschaft und Verbundenheit zwischen dem kinderlosen Koussevitzky und Lenushka, wie er Leonard warmherzig nannte, entwickelt. 1942 wurde Bernstein Assistent von Koussevitzky in Tanglewood und begann selbst zu unterrichten. Bis zu seinem letzten Konzert in Tanglewood am 19. August 1990, seinem Todesjahr, küsste Leonard Bernstein immer, bevor er das Podium betrat, seine Manschettenknöpfe, ein Geschenk von Serge Koussevitzky. Eine Erinnerung an »meinen großartigen Kussi«, ein Ritual des sentimentalen Lenny.
Jahrzehntelang wurde Bernstein von unerbittlichen Kritikern verfolgt, etwa von Claudia Cassidy von der Chicago Tribune. Sie hasste den »Emporkömmling«. Knapp vor Beginn eines Koussevitzky-Konzerts mit Tausenden in der Halle und fast 10 000 Zuhörern, die vor der offenen Rückwand auf der Wiese lagerten, erschien der Maestro – wie immer – in seinem eleganten Automobil, von der Anhöhe seiner Villa Seranak kommend, mit einer Entourage von Motorradfahrern. Sobald Serge Koussevitzky dem Wagen entstiegen war, ertönte ein Trompetensignal. Niemand durfte den Saal mehr betreten, alles wartete atemlos auf den Beginn des Konzerts. Doch einmal kam eine Dame zu spät, wollte noch hinein und wurde vom Ordner zurückgehalten. »Sind sie verrückt? Ich bin Claudia Cassidy von der Tribune«, brüllte sie. Stoisch erwiderte der Platzanweiser: »Mir völlig egal, ich ließe Sie nicht hinein, sogar wenn Sie Leonard Bernstein wären …« Die Kritiken Claudia Cassidys aus Chicago blieben über viele Jahre verletzend und voller Hass.
KAPITEL 9
Gott sagte: Nimm Bernstein
Ein erwachsener Mann steht auf dem Podium und fuchtelt mit den Armen herum: blödsinnig! Aber irgendetwas bringt mich dazu, es zu tun.
Nach dem Ende des Studiums zog Bernstein im Herbst 1942 nach New York und bezog eine winzige Ein-Zimmer-Wohnung im Souterrain. Acht Dollar Miete pro Woche. Um überleben zu können, gab er Klavierunterricht für einen Dollar pro Stunde und schuftete als Pianist in der Tanzschule der Carnegie Hall. Die Alternative war, zu verhungern oder das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Aaron Copland, ein enger Freund, den er schon während seines ersten Jahres in Harvard kennengelernt hatte, munterte den ungeduldigen Lenny immer wieder auf: »Erwarte bloß keine Wunder, lass den Kopf nicht hängen, wenn einmal eine Weile nichts passiert. So ist eben New York.« 37 Jahre später hielt Bernstein für Aaron Copland die Laudatio auf seiner Geburtstagsfeier und huldigte ihn als: »Mein Meister, mein Vorbild, mein Weiser, mein Therapeut, mein Führer, mein Berater, mein älterer Bruder, mein geliebter Freund.«
Von Copland und Koussevitzky – seinen musikalischen Vätern – ermuntert, komponierte Leonard Bernstein bald seine ersten Werke: die Sonata for Clarinet and Piano und Jeremiah, seine erste Symphonie, die auf einem Stoff aus dem Alten Testament basiert. Das Werk über den Propheten Jeremia hat Lenny seinem strenggläubigen Vater gewidmet. Die Symphonie mit biblischem Hintergrund ist aber auch eine Huldigung an den Jazz: »Der letzte Satz, nur für Piano und Schlagzeug geschrieben, überbopt jeden Be-Bop und überboogied jeden Boogie«, meint ein Nachschlagewerk über Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Vor seinem Rücktritt als Musikdirektor der Bostoner Symphoniker 1949 hatte Serge Koussevitzky seinen jungen Freund Lenushka sogar als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Doch der traditionsgebundene Vorstand einigte sich auf den sechzigjährigen französischen Dirigenten Charles Munch. Man glaubte damals, ein erst 31-Jähriger habe noch nicht die Erfahrung, die zur Führung eines der berühmtesten Orchester Amerikas erforderlich sei. Serge Koussevitzky litt unter dieser Entscheidung. Er war immer von der außerordentlichen Begabung Leonard Bernsteins überzeugt. Am 25. August 1943, zu seinem 25. Geburtstag, schenkte er Lenny sein liebstes Portraitfoto. Es zeigt den eleganten Maestro Koussevitzky in einem zweireihigen Nadelstreifanzug. Koussevitzky hatte es mit einer Widmung versehen: »To my very dear Lenushka with all my faith, hope and love.« »Er war so etwas wie ein Vaterersatz«, meinte Bernstein viele Jahre später, »er hatte selbst keine Kinder, und ich hatte einen Vater, den ich zwar sehr liebte, der mit Musik aber so gut wie nichts im Sinn hatte … «
Die für Leonard Bernstein von Dimitri Mitropoulos angestrebte Stelle als Zweiter Dirigent des Minneapolis Symphony Orchestra konnte aus Mangel an finanziellen Mitteln des Orchesters schon 1940 nicht realisiert werden. Da Lenny auch sonst nirgends als Dirigent beschäftigt wurde, begab er sich während des Sommers immer wieder unter die künstlerische Obhut Koussevitzkys. Sobald die Tanglewood-Sommermonate vorbei waren, hielt sich der entmutigte, ungeduldige Lenny in Boston als Begleiter von Tanzveranstaltungen – Five o’Clock Teas und Geburtstagsfeiern – über Wasser. Später arbeitete der junge Musiker in Manhattan für den Verlag Harms-Remick. Hier kam er mit Jazz-Giganten wie Coleman Hawkins und Earl »Fatha« Hines in Kontakt, allerdings nur, um ihre Noten zu kopieren. Aber bald durfte Lenny auch Schlager arrangieren – unter dem Pseudonym Lenny Amber. Für einen dieser Songs, Riobamba, er wurde1942 bei der Eröffnung des gleichnamigen New Yorker Clubs gesungen, erhielt er fünfzig Dollar Honorar.
Interpretiert wurde Lennys Song von einem späteren Giganten des Show Business, der zu dieser Zeit gerade seine Karriere als Nachtclub-Sänger begonnen hatte: Frank Sinatra. Im Riobamba gab es keine Bühne, der Sänger stand zwischen den Tischen direkt neben dem des Besitzers Louis »Lepke« Buchalter, jenes üblen Führers der kriminellen Vereinigung Murder, Inc., die während der 1930er- und 1940er-Jahre für Hunderte von Morden verantwortlich war. Dreimal pro Nacht musste Frankie Boy auftreten: »Er tauchte ein in den Kreis des Spotlights und sang mit seiner sanft-gebrochenen Stimme. Ein Zauber legte sich über die Tische und in den Augen der Frauen spiegelte sich selige Zufriedenheit«, berichtete das Life Magazine blumig.
Doch nach kaum drei Jahren wurde das Etablissement in der East 57th Street, a glitzy jewel box of a joint, das The Voice Sinatra eröffnet hatte, wieder geschlossen. Zu brutal dürften die Machenschaften seines Besitzers gewesen sein: Riobamba-Boss Buchalter ist der bisher einzige mächtige Angehörige des organisierten Verbrechens in den USA, der verurteilt und hingerichtet wurde. Der Gewerkschaftskriminelle, der der Kosher Nostra zugerechnet wurde, gilt in der Geschichte der amerikanischen Mafia als besonders skrupellos. Zweimal wurde sein wildes Leben in Hollywood verfilmt, einmal verkörperte Tony Curtis den Gangster-Boss von New York. Und auch in der ersten Staffel der Erfolgsserie Die Sopranos taucht der Mafioso Louis Buchalter auf.
In den Tagen rund um seinen 25. Geburtstag hatte Bernstein 1943 ein verlockendes Angebot erhalten. Er war gerade bei Serge Koussevitzky in seiner Villa in Tanglewood eingeladen, als er zu einer Besprechung mit Artur Rodzinski, einem der renommiertesten Dirigenten jener Zeit, in seine Sommerresidenz gebeten wurde, in die White Goat Farm, einen Bauernhof im nahen Stockbridge. Es wurde eine pittoreske Begegnung mit einem sonderbaren Menschen: Während der Sommermonate in Stockbridge mutierte der Musiker Rodzinski, der sich am liebsten zeitgenössischer Musik widmete, zum Bauern. Inmitten von Bienenstöcken, Kuh- und Ziegenherden beschäftigte er sich intensiv mit alternativen Ernährungsweisen. Bernstein wurde vom Hobbylandwirt – als Imker verkleidet – begrüßt. Mit einem Motorroller