Sie läuteten umsonst. Niemals hatte das Brautpaar die Kirche betreten. Niemals war Christina Bobs Frau geworden.
Doch das wusste sie nicht. Sie wusste so vieles nicht, was Björn seit zwölf Monaten peinigte und ihn oftmals an den Rand völliger Verzweiflung gebracht hatte.
*
Fee sah ihren Mann fassungslos an. »Dann denkt diese Christina, dass sie verheiratet sei?«, fragte sie.
»Verheiratet gewesen, mein Liebes«, berichtigte Daniel sie nachsichtig. »Sie wurde schwer verletzt bei dem Unglück und lag sechs Monate in einem Krankenhaus. Ihr Zustand muss ziemlich hoffnungslos gewesen sein.«
»Und deshalb hat sich dieser verhinderte Ehemann abgesetzt? Wie schrecklich«, flüsterte Fee.
»Ich blicke da nicht richtig durch«, sagte Daniel nachdenklich. »Dr. Reuwen hat sich, was seinen Bruder anbetrifft, sehr vorsichtig ausgedrückt. Das Unglück passierte jedenfalls auf dem Wege zur Kirche.« Daniel machte eine kleine Pause.
»Und Christina Hammerdonk saß mit ihrem Vater allein im Wagen«, fiel ihm Fee ins Wort.
»Und mit dem Chauffeur. Ihr Vater war auf der Stelle tot, als sie von dem Lastwagen überrollt wurden, der Chauffeur starb noch an der Unfallstelle, und Christina kam, lebensgefährlich verletzt, in das Krankenhaus. So hat Dr. Reuwen es mir erzählt.«
»Und Bob Reuwen?«, fragte Fee voller Spannung.
Daniel zuckte die Schultern. »Darüber hat sich Dr. Reuwen nicht geäußert. Er hat mich gebeten, keine Fragen nach seinem Bruder zu stellen. Er will nur, dass Christina wieder ganz gesund wird. Nach seinen Schilderungen scheint sie gemütskrank zu sein.«
Fee sah ihren Mann nachdenklich an. »Nach allem, was du mir erzählt hast, grenzt es an ein Wunder, dass sie noch lebt. Wenn ein Mensch solche Verletzungen übersteht, kann man kaum erwarten, dass er von heute auf morgen wieder so wie früher ist.«
»Sie ist vor einem halben Jahr als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen worden, Fee. Dr. Reuwen hat sie in eine völlig neue Umgebung gebracht und tut allem Anschein nach alles, um sie in ein normales Leben zurückzuführen. Er möchte, dass wir sie dazu bewegen, auf die Insel der Hoffnung zu gehen, da er das Gefühl hat, dass sie das tägliche Zusammensein mit ihm zusätzlich belaste.«
Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen.
»Das alles ist sehr merkwürdig«, sagte Fee schließlich. »Warum nimmt er sich ihrer so an? Er hat doch keine Verpflichtung. Anscheinend hat sich doch sein Bruder vor einer Verantwortung gedrückt.«
»So sieht es aus. Ich kann es nicht beurteilen, mein Liebes. Was weiß ich, was da alles mitspielt. Mich interessiert der Fall als solcher. Es geschieht recht oft, dass ein Mensch sein Erinnerungsvermögen infolge eines Unfalls, eines Schocks oder harten Schicksalsschlägen verliert, dass er sich aber an etwas erinnert, was nicht geschah, habe ich noch nicht erlebt. Christina Hammerdonk fühlt sich als Frau Reuwen.«
»Sie wollte es sein«, fiel ihm Fee ins Wort. »Es war ihr Wunsch, und so wurde es zu einer Wahnidee, zu einer fixen Idee.«
»Sie trauert um ihren toten Mann, der gar nicht ihr Mann und auch nicht tot ist«, sagte Daniel sinnend.
»Und warum hat ihr niemand die Wahrheit gesagt?«, fragte Fee.
»Das eben ist das Rätsel, das ich gern lösen möchte«, murmelte Daniel.
»Seit wir verheiratet sind, haben wir schon eine ganze Anzahl von Rätseln gelöst, aber wenn dich der Fall so interessiert, gehen wir eben zum Tee zu Dr. Reuwen.«
Daniel lächelte flüchtig. »Du bist ja auch schon neugierig geworden, Feelein«, sagte er hintergründig, und das stimmte.
*
Der Stil des Hauses, vor dem sie am nächsten Tag aus dem Wagen stiegen, war der Landschaft angepasst. Es war ein altes Haus, das schon einige Generationen überdauert hatte. In die Gartenmauer war eine Kupferplatte eingelassen, in die in verschnörkelten Buchstaben der Name von Tandris?eingraviert war.
Ein Herrenhaus war es, im ländlichen Stil und mit so viel Behutsamkeit renoviert worden, dass dieser nicht zerstört wurde.
Dr. Reuwen kam ihnen entgegen. Er trug einen dunkelgrünen Trachtenanzug. Sein Gesicht war so verschlossen wie gestern, aber in seinen grauen Augen war ein heller Schein, der seine Erleichterung ausdrückte.
Er neigte sich über Fees Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er leise, um dann schnell hinzuzufügen: »Bitte, wundern Sie sich nicht, wenn Christina überhaupt nicht spricht.«
Hatte Fee sich von diesem Dr. Reuwen schon eine ganz andere Vorstellung gemacht, so war sie restlos verblüfft, als sie nun Christina kennenlernte. Sie trug ein dunkelgraues Kleid ohne jeden Schmuck. Es war ihr zu weit und ließ die Zierlichkeit des so verhüllten Körpers kaum ahnen.
Ein heißes Mitgefühl durchströmte Fee, als sie in das starre, ausdruckslose Gesicht blickte, in glanzlose rehbraune Augen.
Dennoch war es ein sehr junges Gesicht. Fee hatte nicht vermutet, ein noch so junges Mädchen kennenzulernen.
»Christina«, sagte Dr. Reuwen leise und mit einem mahnenden Unterton, nachdem er Fee und Daniel vorgestellt hatte.
Christina richtete ihren Blick jetzt auf Fee, und nun zeigte ihr Gesicht doch eine Regung.
»Ich bin Christina Reuwen«, sagte sie monoton. »Ich heiße Sie willkommen.« Dann sah sie Björn an. »War es so richtig?«, fragte sie.
Ihm stieg das Blut in die Stirn. Fee und Daniel tauschten einen kurzen Blick.
»Sie wohnen sehr schön«, sagte Daniel, um sich erst einmal von der Beklemmung zu befreien.
»Meine Mutter ist in diesem Hause aufgewachsen«, erklärte Björn.
»Es war nicht nur deine Mutter, es war auch Bobs Mutter«, sagte Christina. Diesmal war ein aggressiver Unterton in ihrer Stimme.
»Gewiss, Christina«, sagte Björn rau.
»Ich bin gern hier, weil Bob dieses Haus liebte«, erklärte Christina. »Es stimmt doch, Björn?«
»Ja, es stimmt.« Man sah Björn an, wie hilflos er sich fühlte. Nun, immerhin ist sie nicht stumm, dachte Daniel. Ob es Björn Reuwen nicht lieber gewesen wäre, wenn ihr Mund verschlossen bliebe? Dem Mienenspiel des andern war nur Überraschung zu entnehmen.
Sie nahmen nun an einem runden Tisch Platz, und Daniel überlegte krampfhaft, wie man ein Gespräch in Gang bringen könnte. Er trank einen Schluck Tee und hätte sich fast daran verschluckt, als Fee sagte: »Ich
kann mich nicht erinnern, wann Bob das letzte Mal hier war.«
Klirrend stellte Björn seine Tasse auf den Tisch zurück. Sie warf ihm einen Blick zu, der bittend und warnend zugleich war.
»Sie kennen Bob?«, fragte Christina so überrascht, dass die Starre von ihrem Gesicht abfiel.
Fee nickte ohne Gewissensbisse. »Es ist ziemlich lange her, dass wir uns trafen«, sagte sie.
»Bob ist tot«, murmelte Christina. »Hast du deinen Freunden nicht gesagt, dass Bob tot ist, Björn?«
Atemberaubende Stille herrschte in dem Raum. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Fee, »Bob war auf der Insel der Hoffnung, als wir uns das letzte Mal trafen.«
»Auf der Insel der Hoffnung?«, fragte Christina stockend. »Davon hat er nie gesprochen.«
»Sie werden es vergessen haben, Christina«, sagte Fee. »Sie waren lange krank.«
Daniel trat ihr unter dem Tisch ganz leicht auf die Fußspitze, aber Fee blieb beherrscht.
»Ja,