Ein Polizeibus stand hilfreicherweise mit den Schlüsseln in der Zündung genau vor dem Haus und der Polizist, mit dem ich zuvor gesprochen hatte, hob äußerst höflich das Absperrband für mich hoch, damit ich wegfahren konnte.
Wir ließen den Polizeibus direkt vor der Stadt stehen und mithilfe einer Heckler & Koch, die ich mir von einem der Beamten geliehen hatte, kaperten wir uns nordwärts und zogen eine Spur zurückgelassener Fahrzeuge und erschütterter Opfer hinter uns her.
Als die Nacht anbrach, hatten wir bereits die Grenze überquert und befanden uns in der weiten Landschaft der schottischen Highlands. Wir hatten also halb England zwischen uns und die Polizei gebracht, doch jetzt wurde die Sache schwierig, denn mit dem Anbruch der Nacht verschwand auch mein Einfluss auf Rachel, und mit dem Aufgehen des Mondes schwand außerdem meine Macht über mich selbst. Das konnte nur zu einem Blutbad für die armen Menschen in Broxburn, Dunbar und West Barns werden … ein Vampir und ein Werwolf, die von der Leine gelassen worden waren und kein Van Helsing weit und breit. Aber ausnahmsweise in ihrem extrem langen Leben sah Rachel mal die Vorzüge, tatsächlich auf mich zu hören, anstatt in einen Blutrausch zu verfallen, und wir konnten den Schutz der Dunkelheit deshalb dazu nutzen, um zu verschwinden, ohne verfolgbare Spuren zu hinterlassen.
Sobald der Mond aufgeht, bin ich nämlich schnell und stark. Ich brauche kein Fahrzeug, kann aber dennoch weite Strecken zurücklegen, selbst mit einem Sarg auf dem Rücken. Rachel ist ebenso schnell und außerdem kann sie mich in meinem verwandelten Zustand beeinflussen, deshalb hatten wir bei Sonnenaufgang weitere dreihundert Kilometer in nördliche Richtung geschafft und uns danach sicher in einem Heuschober irgendwo östlich von Inverness versteckt.
Hier ruhten wir uns eine Weile aus. Rachel frühstückte mehrere Hühner, während ich mir ein Paar Stiefel und einen Regenmantel lieh, den ich an einem Haken neben der Tür fand, um in die Stadt zu marschieren.
»Du kommst doch wieder zurück, oder?«, fragte Rachel, als ich ging.
»Natürlich. Wir sind doch eine Familie«, versicherte ich ihr, bevor ich ihren Sargdeckel schloss und sie unter mehrere Heuballen in eine Ecke der Scheune schob. Solange niemand mit einer Heugabel dort rumstocherte, würde man nicht herausfinden, dass sie dort war. Zumindest konnte man sie nicht so einfach entdecken. Später am Morgen jedoch hatte der Bauer kein Glück damit, seine Kühe zum Füttern reinzubringen. Irgendetwas verängstigte sie offenbar und sie weigerten sich, zur Fütterung auch nur in die Nähe der Scheune zu gehen, egal, wie hungrig sie auch waren.
Ich brauchte gute drei Stunden, um nach Inverness zu laufen, denn niemand hielt an, um mich mitzunehmen, trotz des strömenden Regens, daher erreichte ich die Stadt kurz vor der Mittagszeit. Ich sah mittlerweile wie eine frisch aus dem Grab auferstandene Leiche aus. Es gab viele Orte, wo ich etwas hätte essen können, aber ich war eigentlich gar nicht hungrig. Tatsächlich war ich nicht mehr hungrig gewesen, seit ich gestern Morgen aufgewacht war. Ich musste mich wohl nachts in Thetford richtig vollgefressen haben und jetzt würde ich wahrscheinlich tagelang nichts mehr essen können. Ein kloschüsselsprengender Toilettengang war wohl zu erwarten, aber was Essen anging, könnte man mir jetzt beim besten Willen nicht mal mehr eine Wurst in den Mund zwingen.
Der andere Effekt, den meine Raserei stets hatte, war, mich zu verjüngen. Es ist schon eine seltsame Sache mit Werwölfen. Wir sind nämlich nicht unsterblich wie Vampire. Wir werden alt und müssen letzten Endes sterben, aber eine erfolgreiche Jagd kann den Alterungsprozess aufhalten und manchmal sogar umkehren, wenn wir genug töten … was ich seit fast dreißig Jahren nicht mehr getan hatte. Ich hatte mir erlaubt, alt zu werden, denn ich hatte gewollt, dass mein verfluchtes Leben endlich endet, aber jetzt, dank meines spontanen nächtlichen Straßenfestes, hatte ich die Uhr deutlich zurückgedreht und war wieder jung – oder zumindest nicht mehr ganz so alt wie vorher. Meine Haare waren noch immer grau und mein Gesicht voller Falten, doch meine Augen strahlten wieder blau und mein Körper fühlte sich stärker an als seit … nun ja, länger, als ich mich zurückerinnern konnte.
Als Erstes ging ich zur Bank. Ich hatte nämlich daran gedacht, meinen Geldbeutel einzupacken, als ich mit Rachel geflohen war, und jetzt hob ich genug ab, um mich komplett neu einzukleiden und ein Auto zu mieten. Wie die meisten alten Einsiedler hatte ich mit den Jahren einen beträchtlichen Notgroschen angespart. Tatsächlich hatte ich mit den Jahren ungefähr zehn Notgroschen angespart, alle auf andere Namen und auf anderen Bankkonten und keiner davon war zu mir zurück verfolgbar. Es zahlt sich nämlich aus, den Behörden immer einen Schritt voraus zu sein, besonders da sie wegen der berüchtigten Moor-Würger-Morde damals in den 1960er Jahren noch immer nach mir suchten. Die hatten natürlich nichts mit mir zu tun. Das war leider ganz und gar das Machwerk meines verstorbenen Vaters gewesen, aber ich stand deswegen trotzdem unter Verdacht. Herrlich, nicht wahr? Die meisten Eltern hinterlassen ihren Kindern ein Haus oder ein paar staubige, alte Fotoalben als Erinnerungsstücke, aber mein Vater nicht … nein, der hinterließ mir einen unvorteilhaften Ruf als Serienmörder, der mir wohl für den Rest meines Lebens anhaften wird. Ich vermute, im Gegensatz zum Mittelalter würden mich die Behörden wahrscheinlich einfach einsperren, anstatt mich zu hängen, aber alles in allem wäre es mir trotzdem lieber gewesen, mein Vater hätte mich komplett aus der Sache rausgehalten und sein Vermächtnis stattdessen einem anderen Trottel hinterlassen.
»Unglaublich, oder?«, fragte der Immobilienmakler, der es kaum schaffte, seinen Blick von der heutigen Zeitung loszureißen, obwohl ich ihm genau gegenüber saß und seit drei Minuten ungeduldig gegen seinen Schreibtisch trat. »Es heißt, sie sind jetzt schon in Schottland.«
»Tatsächlich?«, antwortete ich ausdruckslos.
»Es heißt, sie sind vielleicht genau hierher unterwegs.«
»Ist das so?«
»Ein alter Kerl und ein junges Mädchen, mit Maschinengewehren bewaffnet.«
»Ein alter Kerl, sagen Sie? Vielleicht so einer wie ich?«, erkundigte ich mich, nur um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Der Makler senkte nun tatsächlich seine Zeitung und musterte mich interessiert. Ich war mittlerweile frisch gewaschen und gekämmt, nachdem ich in der Toilette des Eastgate Shoppingcenter ausgiebig Gebrauch von einem Stück Seife und einer Haarbürste gemacht hatte, bevor ich in einen Anzug von der Stange geschlüpft war.
Der Makler lächelte höflich und legte seine Zeitung jetzt endlich hin. »Wohl kaum«, sagte er. »Was kann ich denn für Sie tun?«
»Ich möchte eine Immobilie kaufen«, erklärte ich ihm. »An irgendeinem ruhigen Ort, weit, weit weg von allen anderen.«
I
Cape Wrath ist eine Halbinsel im Norden Schottlands, der von Westen und Norden her die kalten Atlantikwinde zusetzen und die im Osten durch den Kyle of Durness vom nächsten Dorf abgeschnitten ist. Ursprünglich war es die Heimat einiger kleiner Bauern-Gemeinschaften, die das Land bearbeitet und wirtlich gemacht hatten, denn das Cape war beinahe hundert Jahre lang unbewohnt gewesen, zum Teil dank der Highlands Clearances des 18. Jahrhunderts und der Tatsache, dass man um keinen Preis der Welt Match of the Day auf die Mattscheibe bekam, nicht mal mit diesen richtig großen Fernsehschüsseln. Ein Großteil des Landes war gesperrt und wurde von der RAF für Bombenübungen benutzt, und die wenigen Straßen, die die Insel aufweisen konnte, waren im Winter und manchmal sogar im Sommer vollkommen unpassierbar.