TEIL 4
Das Mädchen in Weiß
For Charlie, Katie, Scarlett & Frankie, four monsters of assorted horror, with love. X
John Coal war der örtliche Sonderling. Alt, schrullig und einzelgängerisch, aber ansonsten harmlos. Zumindest hatte er auf seine Nachbarn bisher so gewirkt. Doch mittlerweile nicht mehr. Dreißig Jahre der Selbstkontrolle waren in einer einzigen Nacht verpufft, als John unabsichtlich eine Seite von sich gezeigt hatte, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen hatten – geschweige denn, dass sie lange genug gelebt hatten, um davon erzählen zu können.
Nun musste er, aus den ruhigen Vororten von Thetford fliehen und so weit weg von anderen, wie er nur konnte, denn die Polizei jagte ihn, die Armee jagte ihn und selbst die Zoos jagten ihn. Doch John war ein alter Hase, wenn es ums Entwischen ging, und zusammen mit Rachel, seinem Vampirmündel, zog er nach Norden, weg von der Zivilisation und hinein in die Wildnis der schottischen Highlands.
Hier warteten ein neues Zuhause und ein neuer Anfang auf die beiden. Das glaubten sie zumindest. Doch John konnte seiner Vergangenheit genauso wenig entkommen wie seinem Fluch. Das Böse fand das Böse nun mal immer, und für John und Rachel hatte die Gefahr deshalb gerade erst begonnen.
Werwölfe, Vampire, Ghule und Geister, die Toten und die Untoten erwarten Sie in einer zweiten Sammlung von Gruselgeschichten, erzählt und erlebt von John Coal – dem Mann aus dem Haus der Monster.
Böses Erwachen
In jeder Stadt und in jedem Viertel gab es ein gruseliges altes Haus … heruntergekommen, zugewuchert, vernachlässigt und vergessen. Meistens wurde es von einem gruseligen alten Mann bewohnt, auf den mehr oder weniger die gleiche Beschreibung zutraf.
So hatte ich die letzten paar Jahrzehnte meines Lebens verbracht – vor aller Augen versteckt. Nur wenige Menschen nahmen mich überhaupt wahr, und noch weniger kümmerte es. Ich war einfach nur der alte John Coal, ein gewöhnlicher und unscheinbarer Mann, der leicht humpelte und einen Finger weniger als die meisten Menschen hatte. Solange ich meine Nachbarn nicht behelligte, behelligten sie mich auch nicht. Das war eine stille Übereinkunft zwischen den Bewohnern meiner Straße und mir.
Doch anscheinend konnte niemand seiner Vergangenheit für immer entkommen.
***
Ein Werwolf zu sein hatte viele Nachteile. Der Kontrollverlust beim Aufgehen des Mondes, die unaufhaltsame, mörderische Raserei, die kurz darauf folgte, die unschuldigen Leben, die mit dem Zuschnappen des Kiefers ausgelöscht wurden, und natürlich all die verdammten Hosen, die man dabei verbrauchte. Aber das vielleicht Nervtötendste daran war, am nächsten Morgen aufzuwachen, weit weg von zu Hause und ohne Erinnerung daran, wie man dorthin gekommen war … durchgefroren und nackt wie am Tag der Geburt. So hatte ich mich auch an dem Morgen wiedergefunden, nachdem Tommys Vater sich dazu bequemt hatte, mich aufzusuchen.
Ich brauchte einen Moment, um mich an die Ereignisse zu erinnern, die zu seinem Besuch geführt hatten, aber sobald es mir gelungen war, war mein Gesicht unter den verkrusteten scharlachroten Streifen kalkweiß geworden.
»Oje«, war alles, was ich noch herausbringen konnte. Was sonst gab es auch noch dazu zu sagen? Bewusstlos geschlagen und zum Sterben zurückgelassen, hatte ich keine Möglichkeit gehabt, mich vor meiner Verwandlung in meinem extra für diese Zwecke verstärkten und schalldichten Keller einzusperren, was ich normalerweise immer tat. Auf diese Weise hatte ich mich selbst und alle anderen in meiner Nähe in den letzten dreißig und ein paar zerquetschten Jahren geschützt … und doch war ich jetzt, am Morgen danach hier, entfesselt und frei.
Was hatte ich bloß getan?
Bis jetzt hatten nur wenige Menschen in der Stadt überhaupt Notiz von mir genommen, und obwohl ich lediglich eine extrem verschwommene Erinnerung an die letzten Stunden hatte, konnte ich nicht anders, als zu befürchten, dass sich das nun drastisch ändern würde.
Doch zuallererst musste ich Kleidung finden. Das war nicht gerade die leichteste Aufgabe, weil ich mitten im Heideland, unter einem Ginsterbusch aufgewacht war, der nur ein paar dornige Zweige besaß, mit denen ich meine Scham bedecken konnte. Mich dort raus zu schleppen, stellte sich als äußerst ereignisreiche Erfahrung heraus, doch glücklicherweise hatte die frostige Novemberluft dazu beigetragen, meine faltige blaue Haut zu betäuben.
Es gab keinerlei Geräusche oder Anzeichen von Leben jenseits des Busches, nur einige herabstürzende Stare und ein weit entfernter Jet, der einen bauschigen Kondensstreifen an den klaren blauen Himmel malte. Anders als die meisten dachten, besaß ich in meiner menschlichen Form keinen besseren Orientierungssinn als alle anderen. Ich mochte als Werwolf zwar in