HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Lorenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354395
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läuft nicht Columbo, sondern eine dieser dämlichen deutschen Serien, die eigentlich niemand sehen will. Aber es ist nicht sonderlich wichtig, denn Lisbeth hört immer noch Moritz’ Stimme in ihrem Kopf. In ihrem Bauch und sogar vibrierend in ihren Knochen.

      Hilf mir!

      »Hast du was gesagt?« Marlene steckt ihren Kopf aus der Küche heraus, die Kaffeemaschine gluckert.

      »Ich hab nur gesagt, du musst mir dann helfen, mit dem Baum.« Lisbeth versucht ein Lächeln und hofft, dass ihre Tochter nicht nachfragt.

      »Alles ist besser als lernen! Ich schmück jeden Baum der Stadt, wenn es sein muss.«

      Gott sei Dank hat Utrecht den Weihnachtsbaum schon am Vormittag ins Haus gebracht, denn auf eine Unterhaltung mit ihm hat sie jetzt gerade gar keine Lust. Marlene schäumt Milch auf, Lisbeth kann ihre Bewegungen als Schattenriss auf der Wand sehen. Sie hat das Alter überschritten, auch daran denkt Lisbeth gerade. Kein Kind war älter gewesen als elf Jahre. Das jüngste, ein Junge aus einem anderen Ort, sogar nur sechs Jahre alt. Allesamt aus der Schule, die es damals noch am Ort gegeben hat. Unten bei der Hauptstraße, gleich neben dem Bäcker, der heute kein Bäcker mehr ist, sondern ein schlecht laufender Handyladen. Das einzige Geschäft, das es hier überhaupt noch gibt.

      »Nehmen wir halt wieder die üblichen Kugeln. Hauptsache, wir haben genügend Lametta. Lametta ist so retro. Nehmen sie jetzt wieder alle.« Marlene stellt den Kaffee auf den schmalen Tisch neben dem Lesesessel.

      Ihr kann nichts mehr passieren, denkt sich Lisbeth und streift ihre Hand. Und gleichzeitig: Natürlich kann ihr nichts mehr passieren, der Kindermörder ist tot. Längst von den Würmern zerfressen, weit unten in einer unendlich tiefen Grube, zum Mittelpunkt der Welt hin.

      »Du siehst furchtbar blass aus, Mom.« Marlene setzt sich neben sie auf den Fußboden. Zarah trottet herbei und legt sich in ihre Schoßmulde.

      Bei Weitem nicht so blass wie der Tote auf der Notfallliege im Schockraum mit dem Messer im Brustkorb, denkt sich Lisbeth und sagt: »Ich werde alt. Zu alt für Notfälle. Überhaupt für das Krankenhaus, glaub ich.«

      Marlene legt ihren Kopf auf Lisbeths Oberschenkel, so wie damals als kleines Mädchen, wenn sie Sorgen gehabt hatte. Ihren Atem durch Decke und Jeans spürend, ein warmer Hauch, während draußen das Schneetreiben den Himmel unsichtbar macht.

      Das erste Kind, Anna, wurde an einem Herbsttag gefunden, daran muss Lisbeth gerade denken, denn der Schnee sieht ein wenig wie Regen aus im Dämmerlicht des Abends.

      An einem Herbsttag, der viel zu viel Regen und heftige Oktoberstürme gebracht hatte. Geradeso, als hätte der Wind das Böse in die Stadt geblasen. Einen Tag vor den Ferien und dem großen Allerheiligenfeuer bei der Kirche kam die elfjährige Anna von ihrer Freundin nicht nach Hause. Nicht um sieben und auch nicht um acht Uhr abends. Einige Leute machten sich auf den Weg, um nach ihr zu suchen, und sie fanden sie nahe dem Friedhof, auf dem Weg, den sie eigentlich nach Hause nehmen wollte. Anna lag dort, ein wenig abseits des Kirchwegs, auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt, wie ein riesengroßes Lebkuchenmännchen. Oder ein Schneeengel ohne Schnee. In einer Regenpfütze voll schmutzigem Wasser.

      Zuerst, noch weit genug entfernt, hatten sie sich gedacht, Anna wäre einfach ohnmächtig geworden. Das erzählten sich die Leute. Aber dann, nahe genug gekommen, sahen sie alles. Jemand hatte Annas Kehle durchschnitten – ein tiefer, schartiger Schnitt, die Hautlappen weit auseinanderklaffend. Ihr Blut war aus der Arterie hoch zum Himmel hinaufgespritzt und hatte Gesicht und Kleid rot bemalt. Noch Tage später fanden sie weitere Blutspritzer auf der gegenüberliegenden Straßenwand, vom Wind davongetragene Zeichnungen des Sterbens. Grob eröffnet der Brustkorb, ein erschreckend tiefes Loch mit ausgebrochenen Rippen, in dem sich Regen sammelte. Das Herz zerteilt in je einer ihrer blutigen Hände. Sie sah betend aus, die kleine Anna, mit Opfergaben zwischen den Fingern und weit aufgerissenen Augen, die Pupillen auf immer und ewig starr.

      Anna, das erste zerschnittene Kind.

      Es lag damals in der Luft, dass es nicht bei Anna bleiben würde. Jeder ahnte es, träumte davon in mondlosen Nächten und sprach es doch nicht aus. Natürlich kamen Polizisten und Spurensucher und fanden dies und jenes. Zigarettenkippen, Papiertaschentücher und Fußabdrücke, aber all das war wertlos, weil nichts davon etwas erzählte.

      Lisbeth legt ihre Hand auf Marlenes Kopf und streicht behutsam darüber. Die Katze macht einen Buckel und springt auf Lisbeths Decke. In der hinteren Ecke gähnt Samson und trottet zum Futternapf.

      Ist Cordes damals schon Polizist hier gewesen?

      Natürlich, Dummerchen, flüstert Großmutter, er hat dich doch um Rat gefragt, nachdem sie den dicken Anton gefunden haben. Unten am Weiher.

      Das war vier Wochen später gewesen. Der traurige Anton hatte sich oft am Forellenweiher aufgehalten, um mit den Fischen zu reden. Jedenfalls behaupteten das die Kinder. Anton, das Forellengesicht, und Anton, der fette Junge, der mit den Tieren sprechen musste, weil ihm sonst keiner zuhörte, und der deshalb mit neun Jahren immer noch ins Bett machte. Auch Anton kam nicht wie verabredet nach Hause, und auch Anton fanden sie mit aufgeschlitzter Kehle und entferntem, zerschnittenem Herzen.

      Stumm und herzschlaglos.

      Mit offenen Augen, in die der blutige Regen fiel.

      »Woran denkst du?«, fragt Marlene und streichelt die Katze in Lisbeths Schoß.

      »Wie schön hell der Schnee ist!«, sagt Lisbeth und ergänzt leise für sich: Aber wenn man blinzelt, dann sieht man im Kern jeder Flocke ein wenig Rot schimmern.

      So unnatürlich rot wie frisches Herzblut.

      Kapitel 4

      Josef Cordes ist seit den späten Siebzigern Polizist. Zwei Monate nach dem Ende seiner Ausbildung in München ist er von einer Straßenbahn erfasst worden. Seitdem kann Cordes nicht mehr vernünftig gehen und auch nicht mehr allzu lange stehen. Er humpelt, weil er sich nie mit einem dieser Gehstöcke hatte anfreunden können.

      Die Zeit damals war eine ganz andere gewesen, gefärbt vom Schrecken der RAF-Geister. In jeder Seitenstraße schien sich eines dieser Phantome zu verstecken, mit gefärbtem Haar, falschem Pass und geladener Pistole in der Jackentasche. Selbst nach dem Tod von Baader und Meinhof in Stammheim spukten sie noch überall herum. Vor allem aber in den Vorstädten und auf dem Land, wo sich die Untoten ja immer länger halten können.

      Überhaupt hat die Angst, die den Leuten damals tief in den Knochen steckte, die Angst vor lauten Schüssen und Explosionen, dafür gesorgt, dass Cordes tatsächlich Polizist blieb und nicht in den Innendienst versetzt wurde. Natürlich konnte man ihn nicht in München brauchen, für die kleine Vorstadt aber, die damals ja noch viel mehr als heute ein Dorf gewesen war, reichte es vollkommen. Cordes bekam sogar eine eigene Polizeistation – ein kleines Büro zwischen der Metzgerei und der Poststelle. Beides gibt es heute nicht mehr, übrig geblieben ist allein der schmale, längliche Raum mit einem Schreibtisch, hinter den sich Cordes jeden Tag setzt, als wäre er von der Zeit vergessen worden.

      Zu mehr als einem Polizeimeister hat Cordes es nie gebracht. Auch weil ihm nie viel daran gelegen hat und er Fortbildungen hasst. Und natürlich weiß er nur zu gut, dass er diesen Job hier nur deshalb hat, weil er nicht schneller laufen kann als eines dieser alten Marktweiber, die am Sonntagmorgen zur Kirche gehen. Vielleicht hatte es ihn gestört, gleich zu Beginn an diesem merkwürdigen Ort, aber ganz sicher nicht mehr, nachdem er Lena kennenlernte und ihr Sohn Moritz zur Welt kam. Lena ist inzwischen längst nicht mehr hier, sie wohnt jetzt mit einem anderen Mann irgendwo bei Bad Reichenhall. Jede Weihnacht bekommt Cordes von ihr eine dieser Supermarktkarten mit hineingekritzelten Grüßen, die nie ernst gemeint sind. Die Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, weshalb sie eines Tages einfach in die große Stadt gefahren ist, um nicht mehr wiederzukommen, ist längst vorbei. Vermutlich eine Melange aus der Trostlosigkeit dieser Gegend und der Behinderung von Moritz, seinen Schreien inmitten der Nacht, wenn er wieder einmal von Dingen geträumt hatte, die er nicht einmal beschreiben konnte, so hässlich waren sie.

      Moritz hatte bei der Geburt