HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Lorenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354395
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den Weihnachtsbaum. Seit ihrer eigenen Kindheit hat sie nie mehr so viel Lametta gesehen. Sieben Fotos hat Marlene bereits auf Instagram hochgeladen, und ihre Freundinnen posten schon den ganzen Abend neidvolle Kommentare. Scheinbar ist nur Lisbeth allein auf die Retrosache hereingefallen, bei den anderen hängt nicht mal ein einziger silbriger Faden am Baum.

      »Du hast mich reingelegt.«

      »Ach, nur ein bisschen.« Marlene schlittert in ihren dicken Wollsocken zu Lisbeth und küsst sie auf die Wange. Aus dem Radio Kirchengeläut und der Singsang eines Priesters, vermengt mit dem statischen Rauschen der Winternacht.

      Lisbeth ist schon gespannt, wie Marlene auf den Plattenspieler reagieren wird, der in dem großen Weihnachtspaket auf sie wartet. Zwar haben sie einen, doch schon immer hatten sie sich gemeinsam ein Jazz-Zimmer einrichten wollen. Vielleicht würden sie schon morgen damit anfangen, den Krempel aus einem der oberen Räume zu holen. Altes Zeug, das meiste noch von Lisbeths Eltern. Sie würden die Wände blau wie Meerwasser streichen und vielleicht auch die Zimmerdecke. In zwei anderen Paketen Vinylscheiben aus Chicago, die Lisbeth auf eBay für sündhaft viel Geld ersteigert hat. Eine davon sogar signiert von Miles Davis.

      Wann genau Marlene angefangen hatte, sich für diese Musik zu interessieren, kann Lisbeth gar nicht mehr so genau sagen. Irgendwann im Kindergartenalter, das sicherlich. Sie war vom Frühdienst nach Hause gekommen und hat Marlene vor dem alten Transistorradio sitzend gefunden, während Utrecht in der Küche Kreuzworträtsel gelöst hatte. Utrecht war immer zur Stelle gewesen, wenn Lisbeth einen Babysitter gebraucht hatte.

      Mit angehaltenem Atem versucht Lisbeth, sich daran zu erinnern. Marlene hatte ihr Ohr ganz fest auf den Lautsprecher gedrückt, auch weil der Empfang so schlecht gewesen war. Irgendein Sender aus Amerika, mehr Rauschen als Geräusche, aber in diesem unheimlichen Knistern ein Saxofon und eine Trompete, ein wildes Schlagzeug noch dazu. Lisbeths Vater in ihrem Bauch murmelnd: Das ist nichts als Teufelsmusik, stell sie ab, sonst kommen die Toten aus den Gräbern und holen dich!

      Aber nichts davon war geschehen. Stattdessen hatte sich Lisbeth neben Marlene gesetzt und sie gewiegt zu den schrägen Klängen einer Jazznummer von Leuten, die längst tot waren; Geistermusik.

      Danach hatte Lisbeth sämtliche Jazzalben aus den versteckten Ritzen ihrer Vergangenheit geholt. Charlie Parker, John Coltrane und Chet Baker. Der Soundtrack ihrer verschrobenen Kindheit, die dunkel und hell zugleich gewesen war. Ohne zu wissen, wonach sie gesucht hatte, war Lisbeth während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester durch Plattenläden gestreift. Immerzu auf der Suche nach den Klängen von damals, von der Veranda des Nachbarn, der still in einem Lehnstuhl gesessen und Jazzfunken zum Himmel hinaufgejagt hatte. Aber nie hatte sie diesen merkwürdigen Klang gefunden, nicht einmal bei den verrücktesten Free-Jazz-Aufnahmen, die es als Bootlegs zu kaufen gab. Ziemlich nahe kamen dem Klang der schrecklichen Nächte die Herzschläge von Moondog. In ihnen meinte sie die Schreie ihres betrunkenen Vaters und die Schritte des Ungeheuers zu hören, das mit dem Messer in der hohlen Hand versteckt durchs Dorf schlich.

      Coltrane, und das weiß Lisbeth noch ziemlich gut, hatte bei Marlene nicht funktioniert. Schon nach den ersten Takten hatte sie das Interesse daran verloren. Ganz anders bei Charlie Parker, den sie auf Anhieb mochte und sofort zu tanzen begann. Jene Art Tanz, von dem Lisbeth träumt, wenn sie nicht schlafen kann – ein Tanz um das Leben herum, herausschälend, was man wirklich ist und was man nur zu sein glaubt.

      Seltsam. Als wären die Töne von damals tief in Lisbeths Bauch versteckt geblieben, um sie dann mit Marlene abermals zum Klingen zu bringen. Darüber, wie das sein kann, hat sie viel nachgedacht.

      So etwas wie eine stille Übereinkunft waren die Stunden, in denen sie zusammen vor dem Plattenspieler im Wohnzimmer saßen und sämtliche Jazzalben durchhörten. Eine Art Verbindung, die sich niemand so recht erklären konnte und es vielleicht auch gar nicht wollte. Keine Handarbeiten oder Basteleien, sondern als Mutter-Tochter-Sache nur die Schmerzensschreie von Charlie Parker und das Vermächtnis von Moondog, ihre gemeinsamen Herzschläge, gefangen tief in staubigen Vinylritzen.

      »Machst du auf, ja?«

      Wann genau hat sie zum letzten Mal Besuch gehabt, noch dazu Männerbesuch? Lisbeth denkt nach, aber ihr fallen nur die Leute ein, die zu ihr kommen, wenn sie etwas nicht mehr finden. Wie die alte Frau Sauer, die mindestens einmal im Monat ihren Regenschirm verlegt, ob es nun regnet oder nicht, und mindestens einmal im halben Jahr ihre Schlüssel.

      Utrecht klopft sich die Schuhe ab, ein vertrautes Geräusch. Seitdem Marlene keinen Aufpasser mehr braucht, war er nicht mehr hier gewesen. Zu keinem Geburtstag, keinem Feiertag und schon gar nicht zu Weihnachten. Lisbeth kommt sich dumm vor, und aus lauter Verlegenheit weiß sie im ersten Moment gar nicht, ob sie ihm die Hand schütteln oder ihn umarmen soll. Manchmal strömt das Leben an einem vorbei, ohne dass man es zu fassen bekommt.

      »Lange her!«, sagt Lisbeth schließlich und umarmt Utrecht kurz.

      »Haben uns doch erst heute Morgen gesehen, draußen. Schon vergessen? Lisbeth, Lisbeth!«

      »Du weißt genau, was ich meine.« Sie lächelt, Utrecht lächelt mit.

      »Natürlich. Wir sind alle beschäftigt, das Leben ist einfach zu kurz, so ist es doch.«

      Doch – sie mag Utrecht. Mehr, als sie zugeben würde. Er hat etwas Geheimnisvolles an sich, tief verborgen in seinem Herzen. Eine gewisse Traurigkeit. Vielleicht wird sie ihn eines Tages danach fragen.

      »Setz dich. Es gibt Ente. Du magst doch Ente, oder?« Lisbeth schenkt ihm ein Glas Rotwein ein und merkt, dass sie dabei zittert. Es sind seine Augen, die sie zittern lassen. In ihnen jene Melancholie gespiegelt, die sie auf eine unerklärliche Art und Weise anziehend findet.

      »Ente ist klasse, natürlich. Weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal bekocht wurde. Ist schon lange her. Zu lange.«

      Lisbeth riecht sein Aftershave und den dezenten Geruch einer frisch gerauchten Zigarette, während aus dem Küchenradio ein Chor Weihnachtslieder singt und von der Kirche her Menschen zu hören sind, auf dem Weg nach Hause. Mit frierenden Kindern an den Händen, über sie gezogen eine sternenklare Nacht.

      Eine Wärme durchströmt Lisbeths Haus, das lange Zeit nicht zu wärmen gewesen war. Die scheinbar ständige Kühle, die sommers wie winters die Flure mit unsichtbarem Raureif bedeckte. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter war das so gewesen und auch noch eine ganze Zeit darüber hinaus, als Lisbeth noch nicht volljährig gewesen war und während der Ausbildung in einem Schwesternwohnheim gelebt hatte. Vernagelt die Türen und Fenster, alles stillgelegt und die Mäuse schlafend, als sie zurückgekehrt war und fror an einem hitzegeplagten Sommertag.

      Das ist alles sehr lange her, und manchmal, wenn Lisbeth gerade aufwacht und im Bett liegend zur Zimmerdecke starrt, glaubt sie, dass alles vielleicht gar nicht so geschehen ist, sondern ganz anders. Daran erinnern kann sie sich nicht, nur an die Musik von der Veranda des Nachbarn. Und an die Sternschnuppen, die den Nachthimmel zergliedert hatten.

      Tatsächlich? War das so gewesen? Hatten Sternschnuppen den Himmel zergliedert? Oder bildest du dir das nur ein? Warum auch denkst du gerade jetzt daran? Lisbeth, Lisbeth!

      Lisbeth kneift ihre Augen fest zusammen, so fest, dass es wehtut und sie Flackerlicht in dieser milchigen Schwärze erkennen kann.

      »Mama? Was ist los?«

      Mama, was ist los mit mir? Worte, die in ihrem Mund stecken und doch nicht rauswollen. Jeder Buchstabe vermengt sich mit dem Weihnachtsessen, will wieder ausgebrochen werden, und doch schluckt sie den galligen Klumpen hinunter. Hält sich mit weiß gewordenen Knöcheln an der Tischkante fest und wackelt auf dem Stuhl hin und her, als wäre sie auf großer Schiffsreise.

      »Nichts, nichts. Alles gut, mein Schatz«, flüstert sie, meint es aber nicht. Es ist diese unglaubliche Wärme, die ihr in den Knochen steckt, und würde sie gerade ihre Beine spüren, würde sie am liebsten nach draußen laufen, um sich in den Schnee zu legen.

      Um nicht zu verbrennen.

      Nein, keine Sternschnuppen. Natürlich keine Sternschnuppen. Wie dumm kann man nur sein!

      Großmutter,