HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Lorenz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354395
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Um sich an ihm zu wärmen, vertreibend die dunklen Episoden in ihrem Kopf. Von Messern und Löchern in Brustkörben, in denen das Blut gerinnt.

      »So soll es sein!« Utrecht schlüpft wieder in seinen Handschuh, klopft ihr zweimal auf die Schulter, als wären sie schon ein Leben lang befreundet, und macht weiter mit dem Schneeräumen. Geht hinein in die Schatten dieser Nacht, als würde er sich vor nichts und niemandem fürchten müssen. Weit weg auf einem Einödhof bellt heiser ein Hund.

      Im Licht und in der Wärme geht die Angst weg, auch das ist eine eigenartige Angelegenheit. Schon im Hausflur mit seinem Duft nach frischem Tee und den leisen Tönen des Fernsehers wirkt alles merkwürdig abstrakt. Der Sack voller Erinnerungen nur noch ein staubiges Behältnis ohne Leben, nichts davon scheint wahr zu sein oder sonderlich wichtig.

      Obwohl die Kindheit zersplittert gewesen war von den elterlichen Streitereien, ist Lisbeth nie auf die Idee gekommen, von hier wegzuziehen. Diesen Ort und vor allem dieses Haus zu verlassen. Vielleicht auch, um mit viel Farbe und noch mehr guten Gedanken alles Dunkle aus den Mauerritzen zu vertreiben. Mit der Gewissheit in den Knochen, dass sie sonst nur geflohen wäre vor den eigenen Albträumen und dass diese dunklen Serien dann nie aufgehört hätten. Ihr Vater war eines Tages einfach am Küchentisch eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Damals ein großes Mysterium, als hätten ihn die bösen Worte einfach so aus dem Leben gerissen. Natürlich weiß Lisbeth heute, dass ein plötzlicher Herztod gar nicht mal so selten die Leute auf den Friedhof befördert. Damals war sie so alt wie Marlene heute gewesen. Nur ein paar Monate später hatten sie an einem Frühjahrstag ihre Großmutter mit einem Schlaganfall im Garten gefunden, auf dem Rücken liegend und zu Gott flehend mit Wortfindungsstörungen. Einige Stunden später war sie dann in jenem Krankenhaus verstorben, in dem Lisbeth heute noch arbeitet. Und auch das hat Lisbeth längst als Normalität verstanden: Wenn es einmal anfängt mit dem Sterben, dann hört es so schnell nicht wieder auf. Auf den Stationen gibt es eine einfache Regel dazu: Es sterben immer drei Leute in rascher Abfolge. So als wäre der Tod auf einer kurzen Durchreise, um alles Notwendige zu erledigen.

      Zum Herbst, einige Wochen bevor Lisbeth mit ihrer Ausbildung begann, wachte ihre Mutter mit schrecklichen Kopfschmerzen auf. Metastasen im Gehirn von einem zu spät erkannten Brustkrebs, drei Monate später war auch sie tot. Allesamt liegen sie jetzt in einem Familiengrab, das Lisbeth nur sehr selten aufsucht. Denn noch immer glaubt sie, sie reden hören zu können, wenn sie am Grab steht. Reden und schreien, aus der Grube heraus, alle durcheinander und ziemlich schlecht gelaunt.

      Ob sie deshalb Krankenschwester geworden ist, darüber hat Lisbeth lange nachgedacht. Um wirklich und wahrhaftig zu verstehen, weshalb Leute sterben, deren Zeit noch nicht reif ist. Um herauszufinden, ob die Seele zuerst aufhört zu leben und dann erst das Herz. Oder umgekehrt. Ganz sicher ist sie bis heute nicht.

      »Was läuft?« Lisbeth schält sich aus dem Mantel und setzt sich an den Küchentisch, an dem ihr Vater gestorben ist. Durch die offene Tür zum Wohnzimmer kann sie Marlenes Füße sehen.

      »Fargo. Die Serie. Ist ziemlich cool.« Die Kartoffelchipstüte raschelt. Vor dem Fenster hustet Utrecht laut und lange.

      Was sie ohne Marlene hier tun würde, weiß Lisbeth nicht. Vielleicht wäre sie auch schon gar nicht mehr hier, sondern hätte in einer der großen Münchner Polikliniken angefangen zu arbeiten. Dort, wo es mehr Geld gibt und nicht immer die gleichen Gestalten in der Notaufnahme. Seufzend gießt sie sich schwarzen Tee in eine Tasse und schlüpft aus ihren Schuhen. Nur noch zwei Spätdienste, dann würde sie endlich frei haben. Sogar bis nach den Weihnachtstagen, außer sie würde wieder einmal einspringen müssen. Aber darüber will sie gar nicht nachdenken, denn man kann das Unglück auch herbeireden, dessen ist sie sich sicher.

      »Utrecht besorgt einen Baum.«

      »Dann haben wir vielleicht mal keine dieser hässlichen Stauden. Außer er hat denselben Geschmack wie du.«

      Lisbeth lächelt.

      »Du solltest ihn einladen. Zu Weihnachten. Er würde sich freuen, denke ich mal.«

      »Und wenn er Besuch bekommt?«, erwidert Lisbeth, und weiß, dass es nicht so ist. Samson hüpft auf ihren Schoß und zwinkert sie aus seinen schiefen Augen heraus an. Samson, der bereits mindestens siebenmal von den Toten auferstanden ist. Ein übergewichtiger Kater mit Sehstörungen, der ihnen zulief, als Marlene gerade einmal drei Jahre alt war. Ebenso zulief wie Abraham und Zarah, beide schlafen unbeeindruckt von Lisbeths Erscheinen neben der Heizung seelenruhig weiter. Manchmal wacht Lisbeth inmitten der Nacht auf und glaubt fest daran, dass die Katzen etwas mit früher zu tun haben. Als sie nach ihnen in den Wäldern gesucht hatte, den Herzschlag spürend, aber auch den Herzstillstand, weit über alle Wiesen und Äcker hinweg. Manches Mal bildet sie sich sogar ein, es seien jene Tiere, die sie nicht hatte finden können. Die verloren gewesen waren für alle Zeit, weder tot noch lebendig.

      »Utrecht und Besuch? Glaubst du doch selbst nicht!« Marlene schaltet den Fernseher aus und kommt in die Küche.

      »Vielleicht vom Weihnachtsmann, wer weiß?«

      »Natürlich. Oder vom Schwarzen Mann«, sagt Marlene und umarmt ihre Mutter von hinten. Samson, dem das nicht sonderlich gefällt, murrt kurz auf und springt beleidigt von Lisbeths Schoß, um in den Staubritzen nach Essbarem zu suchen.

      »Das ist nicht sonderlich lustig!« Lisbeth drückt Marlene fest an sich, atmet den Duft ihres Haars und ihrer Haut ein. Spürt ihre Wärme und ihr Herz klopfen.

      »Das. Nein, das ist nicht lustig. Tut mir leid, ja?« Marlene beißt sich auf die Lippen, denn natürlich weiß sie von den Geschehnissen der damaligen Zeit. Von der ewig andauernden Vollmondnacht mit einem Mond, der blutrot getränkt an einem viel zu nahen Himmel gestanden war. Marlene weiß nicht alles, nur das, was sie in der Schule darüber gehört hatte. Ein Sammelsurium an Gerüchten und Geschichten, die sicherlich zur Hälfte falsch waren. Still küsst sie ihre Mutter auf den Hals.

      »Überlegst du es dir mit Utrecht? Das wär mal eine Abwechslung. Sonst muss ich mir womöglich wieder Geschichten aus dem Krankenhaus anhören. Und die sind wirklich widerlich.«

      »Na gut, ich überleg es mir, ja?« Lisbeth wischt eine von Marlenes Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und fühlt sich furchtbar alt dabei. Wo ist nur die Zeit geblieben, die Tage sind viel zu schnell verstrichen! Jene guten Stunden zumindest, während die schlechten auf ewig bewahrt zu sein scheinen. Tief in ihrem Bauch, unterlegt von den Klängen aus einem alten Radio. Jazzmusik, die in ihren Erinnerungen tatsächlich auch eines ist: der Gesang des Teufels.

      Kapitel 3

      »Irgendwo müssen sie doch sein, verdammt!«

      Lisbeth sucht weiter, während sie von unten Weihnachtslieder aus dem Webradio hören kann. Sicher steht Marlene wieder in der Küche und tanzt, weil sie sich unbeobachtet fühlt, anstatt den Abwasch zu erledigen. Die ganze Nacht über hat es geschneit, und es schneit immer noch. Alle paar Stunden geht Utrecht nach draußen, um die Wege zu räumen. In der Zeitung haben sie geschrieben, dass es einer dieser Jahrhundertwinter werden würde, aber daran glaubt Lisbeth nicht. Jedes Jahr schreiben sie von einem noch nie da gewesenen Wintereinbruch, von arktischen Zuständen, von Stromausfällen. Und dann? Schneeschmelze zu Weihnachten und frühlingshaftes Wetter.

      Lisbeth setzt sich genervt auf eine der alten staubigen Schachteln mit toten Mäusen und vertrockneten Wespen zwischen den Kindheitserinnerungen und besieht sich ihre Hände. Staubig und mit Schmutzschlieren, einen ihrer Nägel hat sie sich an einem losen Brett eingerissen. Sie schließt die Augen und wünscht sich eine Zigarette, um den Staubgeruch zu überdecken, so wie sie sich manchmal eine Zigarette in der Notfallambulanz wünscht, um den Geruch von Urin, Kot und Erbrochenem kaschieren zu können. Obwohl Lisbeth sicher ist, dass ihre Taschen leer sind, kramt sie in ihnen herum, findet aber nur ein Feuerzeug.

      Die Haare. Die Haare haben als Erstes gebrannt. Lichterloh.

      Und dann.

      Dann die Augenbrauen.

      Und dann.

      Dann die Jacken und Hemden und Oberteile,