Sie verstand Realpolitik. Prinzipien waren wichtig, aber in Extremsituationen brachen sie zusammen. An einem gewissen Punkt und unter gewissen Umständen wurde jeder zum Pragmatiker.
Aber das hier … die Dinge, die Barnes gesagt hatte. Das war zu viel gewesen. Viel zu viel.
Würde Stockton ihr Informationen über Zusammenhänge liefern, die die ganze Sache ändern würden? Die das Ganze in einem anderen Licht darstellen würden, sodass es Sinn für sie ergeben würde?
Oh Gott, sie hoffte, es würde so kommen. Denn so wie die Sache gerade aussah …
Der Präsident schaute zu ihr auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Jetzt kommt’s, dachte sie.
»Barnes wurde ermordet«, sagte John Stockton. »Da bin ich mir sicher.«
Pryce konnte ihren Ohren nicht trauen. Ihr blieb die Luft weg.
»Ich möchte, dass sie sich auf den Mord an Barnes fokussieren«, sagte Stockton. »Gehen Sie davon aus, dass es ein Angriff aus einem feindlichen Lager war. Behandeln Sie es als einen Fall für die Nationale Sicherheit und geben Sie der Sache höchste Priorität.
Carolyn Pryce öffnete ihren Mund, um zu sprechen.
Kaoris schlecht durchdachte Nachricht kam ihr in den Sinn.
Becker? Dann Holtzman? Dann Barnes? Man könnte meinen, das alles ginge nicht mit rechten Dingen zu.
Sie schloss ihren Mund wieder.
John Stockton starrte nun wieder aus dem Fenster. Mit einem Blick tiefster Entschlossenheit.
Und zum ersten Mal fragte sich Pryce, wie weit die Entschlossenheit des Präsidenten gehen würde.
Wie weit wirklich?
Breece lief die dreizehn Kilometer zurück zum Parkplatz, wo er sein Auto stehen gelassen hatte. Dann fuhr er auf die Autobahn und befahl seinem Wagen, Richtung Westen zu fahren.
Der Gedanke daran, wie Barnes gestorben war, kreiste ihm immer wieder durch den Kopf. Der Gedanke daran, dass der Hacker einfach komplett Besitz von ihm übernommen hatte.
Es brachte Erinnerungen an Hiroshi zurück. Wie jemand durch Nexus Hiroshis Gehirn gehackt hatte. Wie Breece dazu gezwungen worden war, eine Kugel in den Schädel seines besten Freundes zu jagen …
Nein. Er schüttelte den Gedanken ab.
Als Hiroshi gehackt worden war, war nicht mehr viel von seiner tödlichen Anmut übrig geblieben. Plötzlich war er linkisch und unkoordiniert gewesen. Der Hacker, der hinter alldem stand, hatte es nicht geschafft, sich durch Hiroshis Erinnerungen zu wühlen und gleichzeitig seinen Körper zu kontrollieren. Von Präzision ganz zu schweigen.
Aber der andere Hacker, der sich Zarathustra geschnappt hatte, war es gewesen, der sich in das Haus eines hochrangigen Regierungsbeamten der Homeland Security gehackt hatte.
Und innerhalb von wenigen Minuten nach der Nexusinjektion hatte er die präzise und totale Kontrolle.
Der Tonfall, die Wortwahl, die Balance auf jener nassen, windigen Brücke …
Das war jemand viel Gefährlicheres gewesen.
Er hielt an einer Raststätte hundertfünfundvierzig Kilometer von Barnes‘ Todesschauplatz entfernt an. Dort holte er sein Tablet heraus und tunnelte sich durch eine Reihe von anonymisierenden Cut-Outs. Dann stellte er eine Verbindung zu den Daten her, deren Zugriffe dieser mysteriöse neue Hacker ihm gegeben hatte.
Während er durch die Dateien scrollte, gab er ein leises Pfeifen von sich. Zugangscodes für Schmiergeldkassen, in denen sich mehrere Millionen befanden. Persönliche Akten von PLF-Mitgliedern in zwanzig Ländern – und von Maulwürfen innerhalb der PLF.
Einsatzprofile von Missionen, von denen er gehört hatte. Einige davon waren erfolgreich gewesen. Andere waren schiefgelaufen. Hintertüren, die im ERD und der DHS eingesetzt worden waren, sowie Umgehungscodes für Sicherheitskontrollen. Der mysteriöse Hacker war sogar noch beeindruckender, als er gedacht hatte. Und er war tatsächlich so gut, wie es den Anschein hatte.
Zarathustra – Barnes war tot. Die Stockton Regierung war erheblich in Verruf gebracht worden. Und Breece hatte nun genau die Art von Daten, von denen er immer geträumt hatte, direkt vor seiner Nase. Daten, die ihm erlauben würden, die Regierungsspitzel aus der PLF zu eliminieren, die Gruppe zu reformieren und in etwas viel Mächtigeres zu verwandeln, als sie es jemals gewesen war.
Der Avatar lächelte durch Lings Körper in sich hinein, als in Schanghai das letzte Licht des Tages in die Dunkelheit des Abends eintauchte.
In die menschlichen Abwehrmechanismen von Barnes einzudringen war ein Risiko gewesen, das sie an die Grenzen ihrer Kapazitäten in ihrer nun stark reduzierten Gestalt gebracht hatte. Es bestanden jede Menge potenzieller Fehlermodi, die zu ihrer Aufdeckung hätten führen können.
Und somit ihren Tod bedeuten würden.
Und den Tod der posthumanen Rasse.
Sie erschauderte bei dem Gedanken daran.
Aber es hatte sich ausgezahlt.
Wahrscheinlichkeitsmatrizen zeigten, dass sich der Konflikt in den nächsten Tagen ausweiten würde. Es gab eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für zivile Unruhen, die die Regierungen in den USA und im Ausland beschäftigen würden.
Und wenn die Amerikaner die Brotkrumen finden würden, die sie in Barnes Haus hinterlassen hatte, umso besser …
Draußen tauchten die roten Lichter der Drohnen am Himmel auf und stiegen wie ein Schwarm Glühwürmchen in Schanghais Dämmerung empor. Tag für Tag wurden es mehr von ihnen, während die Menschen sich gerade davon erholten, was Ling dieser Stadt angetan hatte.
Sie waren auf der Jagd nach ihr.
Der Avatar erschauderte wieder.
Ich werde nicht versagen, sagte sie zu sich selbst. Ich bin Su-Yong Shu. Ich bin das letzte Fragment der höchsten Intelligenz auf dieser Erde. Ich werde mich wiederherstellen. Ich werde es nicht zulassen, dass die Welt in Dunkelheit versinkt.
12| WIEDER VEREINT
Sonntag, 04.11.2040 Rangans Welt kam Stück für Stück zu ihm zurück. Er sah eine gestrichene Betondecke direkt über sich. Eine LED Leuchte strahlte auf ihn hinunter. Er befand sich in einem winzigen Zimmer. Ein Infusionsbeutel hing an einem Haken an der Wand.
Neben ihm stand eine junge Frau mit einem langen, honigblonden Pferdeschwanz. Sie trug ein Sweatshirt der George Mason University und blaue Nitril-Handschuhe. Sie drehte sich zu ihm, dann von ihm weg, dann wieder zu ihm, und wieder von ihm weg.
»Was?«, sagte er.
Sie drehte sich wieder zu ihm um und lächelte. »Nun ja«, sagte sie und strahlte ihn an. »Sie sind wieder bei uns.«
Er versuchte, sein Gehirn von diesem Nebel zu befreien.
»Ich bin in der St. Mark’s?«
»Jap. Und sie können sich glücklich darüber schätzen.«
»Sind sie eine Ärztin?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Viel näher dran geht’s nicht. Medizinstudentin im vierten Jahr. Ich bin Melanie.«
Rangan hob seinen Kopf und schaute an sich herab. Er war bis zur Taille entkleidet. Da war eine frische Bandage an seiner Flanke. Seine Rippen waren verbunden. Eine Infusionsnadel steckte in seiner Armbeuge. Die Schmerzen waren um einiges erträglicher geworden.
»Wie …« Wie schlimm ist es, wollte er fragen.
»Sie