Dies war für Hansis Selbstbewusstsein wie eine Initialzündung. Eigentlich war er eher ein bescheidener Typ – früher. Aber nun behandelten ihn plötzlich alle sehr zuvorkommend, sogar die eher bissige und gefürchtete Dorfratschn Berta Hinkhofer. Anfangs freute sich Bettina für ihren Mann, endlich kam er ein wenig aus sich heraus. Inzwischen war ihr sein neues, fast selbstverliebtes Verhalten aber eher ein zuwider. Der ehemals sehr zufriedene, fast unscheinbare Hansi dachte nun wohl, er sei der Mittelpunkt von Unterfilzbach, fand Bettina. Das fing morgens schon an. Inzwischen brauchte er fast länger im Bad als seine immer topgestylte Tochter Isabelle.
Isa legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres, schon von Berufs wegen. Die gelernte Friseurin machte im Moment eine Fortbildung zum Make-up-Artist. Lange hatte sie dafür gespart. Und nun fuhr sie die Woche über nach München und besuchte den fünfmonatigen Vollzeitkurs. Das hatte allerdings zur Folge, dass ihr das Trinkgeld und natürlich das Gehalt aus ihrer Anstellung in Karins Friseur Stüberl fehlten. Deshalb schnitt sie am Wochenende allen möglichen Menschen aus Unterfilzbach die Haare, quasi in Heimarbeit. Und der Vater der Unterfilzbacher Stilikone machte nun den Anschein, als würde er ihr in Sache Styling nacheifern wollen.
Die täglichen Aufgaben im Bauhof waren meistens mit allerhand Schmutz verbunden, was Hansi früher nicht im Geringsten gestört hatte. Seit Neuestem musste seine orangefarbene Arbeitslatzhose aber immer frisch und ohne jeglichen Fleck sein. Also musste er täglich eine frische anziehen, denn bei Kanalarbeiten oder Ähnlichem konnte die leuchtende Hose schon auch mal beschmutzt werden. Bettina hatte seither fast doppelt so viel Wäsche und war davon natürlich nicht begeistert.
Sogar Rasierwasser benutzte Hansi nun fast täglich und das, obwohl ihn Bettina früher manchmal an sein Deo erinnern musste. Wenn Bettina dann ab und zu ihrem Unmut Luft machte, entgegnete ihr Gatte nur: »Bettina, was sollen denn die Leute denken? Ich bin jetzt schließlich eine Person des öffentlichen Lebens.«
Immer öfter dachte sich Bettina innerlich, wenn Hansi wieder seine Anwandlungen hatte: Er wird langsam aber sicher a Depp.
Was Hansis Höhenflug noch zusätzlich anfeuerte, waren die Umgarnungen von verschiedenen führenden Kommunalpolitikern, die ihn zu einer politischen Karriere auf Gemeindeebene überreden wollten. In Unterfilzbach standen nämlich im herannahenden Frühjahr die Kommunalwahlen an. Der Bürgermeister und auch der Gemeinderat sollten neu gewählt werden. Die meisten Parteien oder sonstigen Gruppierungen wählten ihre Kandidaten nicht unbedingt nach politischem Können oder Befähigung aus. Manchmal zählten einfach nur die Beliebtheit und der Bekanntheitsgrad oder die Zugkraft für potenzielle Wählerstimmen. Und da war Hansi natürlich jetzt in ihr Visier gerückt. Zwar wäre er selbst niemals auf die Idee gekommen, sich für einen Sitz im Gemeinderat zu bewerben, und er lehnte bisher immer jede Anfrage ab, aber langsam kam er ins Überlegen. In letzter Zeit stand bald schon jeden Tag ein anderer Kommunalpolitiker bei den Scharnagls vor der Haustür und wollte Hansi für seine Liste gewinnen. Das gefiel Hansi sehr. Jeder schmierte ihm Honig ums Maul. Er genoss es in vollen Zügen und nahm die »Bestechungsgeschenke« – meistens in Form von Bier, Schnaps oder Wurstwaren – gerne entgegen. Schließlich war er ja – noch – kein Mandatsträger und somit galt das gar nicht als wirkliche Bestechung.
Wenn in Hansis Leben in den letzten Jahren Entscheidungen von diesem Ausmaß zu fällen waren, redete er entweder mit seiner Bettina darüber oder mit seinem besten Freund und Kollegen Sepp Müller. Da Hansi wusste, dass seine Frau nicht viel von einer eventuellen Politikerkarriere hielt, suchte er an diesem kalten Januarabend also das Gespräch mit seinem Spezl und fuhr einfach spontan bei ihm vorbei. Sepp lebte allein mit seinem Kater Willy in einem zauberhaften, liebevoll renovierten Haus am Ortsrand. Sepp war ein ganz besonderer Mensch. Er war belesen, intelligent, handwerklich wahnsinnig geschickt und unglaublich gutmütig. Leider war er manchmal sehr in sich gekehrt und Hansi wusste lange nicht, warum er von Zeit zu Zeit so traurig war. Aber letzten Sommer hatte sich das Rätsel ein wenig gelüftet.
Vor fast fünfundzwanzig Jahren hatte Sepp wohl die heutige Metzgereibesitzerin Maria Aschenbrenner, damals noch Hirtreiter, kennengelernt und die beiden hatten sich heftig ineinander verliebt. Das war damals in München gewesen, als Sepp noch Maschinenbau studierte und Maria einen Kurs in Buchhaltung und Steuerrecht für Mittelstandsfirmen machte. Nach drei Monaten des höchsten Glücks war Maria dann von heute auf morgen spurlos verschwunden und für Sepp brach eine Welt zusammen. Da hatte er wohl einen kleinen Knacks bekommen, der arme Sepp. Die beiden sahen sich nach langer Zeit erst in Unterfilzbach wieder, als Sepp nach ein paar geheimnisvollen Jahren wieder in seinen Heimatort zurückkehrte, um eine Stelle am Bauhof anzutreten, und überraschend hier auch Maria antraf. Maria stammte eigentlich aus einem Dorf einige Kilometer entfernt von Unterfilzbach. Als Sepp seine große Liebe dann urplötzlich in der Metzgerei Aschenbrenner wiedersah, war er wie vom Blitz getroffen. Jedoch war Maria Hirtreiter inzwischen zu Maria Aschenbrenner, der Ehefrau von Reiner Aschenbrenner geworden. Beide taten lange Zeit so, als würden sie sich nicht kennen. Erst letzten Sommer hatte sich dann endlich ein Gespräch zwischen ihnen ergeben und sie konnten über alles reden.
Bettina freundete sich zeitgleich mit Maria an, und aus dieser Informationsquelle wusste Hansi, dass wohl auch Maria sehr gelitten hatte, weil sie Sepp verlassen musste. Aber sie stellte damals in München fest, dass sie schwanger war. Leider nicht von Sepp, sondern von Reiner. Und so nahm das Schicksal seinen bisher tragischen Lauf, denn Bettina fand, dass Sepp und Maria auf alle Fälle zusammengehörten. »Man sieht förmlich die Liebe zwischen den beiden«, sagte sie immer zu Hansi.
Hansi durchquerte Sepps wunderbaren Gemüse- und Nutzgarten, wie ihn kein Gärtner schöner hätte anlegen können. Dem sah man jetzt im Januar seine Pracht natürlich nicht an, aber im Sommer war es das reinste Paradies hier, im Reich von Hansis bestem Freund.
Hansi klingelte an der Haustür. Als die sich öffnete, fiel er um ein Haar in Ohnmacht. Wer sonst sollte hinter der Tür stehen außer sein Sepp? Die Tür öffnete dann aber tatsächlich: Ashanti!
Ashanti war ein Endvierziger und ehemaliger Versicherungsvertreter, der eigentlich amtlich Alois Amberger hieß. Das allein war ja schon eine Ohnmacht wert, zumindest einen kleinen Schwindelanfall. Aber das war noch nicht mal das Überraschendste. Ashanti stand wahrhaftig in einem weißen, über und über mit Glitzersteinen bestickten Kleid mit wahnsinnig ausladendem Reifrock in der Tür. Dazu trug er weiße Satinhandschuhe bis zu den Ellenbogen und in seinen langen grauen Haaren war ein funkelndes Diadem drapiert. Die Frisur hätte wohl eine Flechtfrisur werden sollen. Mit verschiedenen Farbklecksen im Gesicht, die wohl ein Make-up darstellen sollten, erinnerte diese Gestalt Hansi direkt an eine schlechte Parodie der Kaiserin Sissi.
Als Ashanti sich nach dem Öffnen lasziv in den Türrahmen lehnte und mit schriller Stimme und gespieltem österreichischem Akzent quakte: »Fraaanz, Eure Majestät, komm rein!«, war Hansi sicher, das sollte tatsächlich die Kaiserin Sissi darstellen. Offensichtlich erwartete »Sissi« alias