Draußen verließ das Fuhrwerk den Hof. Es schien, als wäre die Gelegenheit gekommen, ihr Anliegen auf den Weg zu bringen.
Magdalene fand ihren Mann im Kontor, den Ellenbogen auf sein Schreibpult gestützt. Das Kontor war die kleine Stube hinter dem Erkerzimmer, der Durchgang zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Alles, was das Geschäft anging, bereitete Georg dort vor, er schrieb Bestellungen, führte Bücher und Korrespondenz. Das Stübchen beherbergte nicht viel mehr als das Schreibpult, seine Truhe und die große Bibliothek – so hieß der verschlossene Schrank mit allen Büchern und Papieren. An der Wand über der Truhe hing ein gerahmtes Bildnis von Augusta, Georgs erster Frau, die dreieinhalb Jahre zuvor gestorben war. Augusta war dürr wie eine Spitzmaus gewesen, wenn das Bild nicht log. Es musste zu einer Zeit gemalt worden sein, als sie schon krank war; ihre Haut schien, wenn der Maler es richtig wiedergegeben hatte, stumpf und bleich, das Lächeln mühsam, und die rote Schleife in ihrem Haar wirkte, als hätte sie die seit ihren Kindertagen vergessen abzunehmen. Das Schreibpult stand gegenüber der Wand mit der Truhe. Georg musste, wenn er von der Arbeit aufblickte, dieses Bildnis sehen. Er sah Augusta in die Augen, und sie schien zu fragen: Was tust du, Georg?
An diesem Platz stand er, ein dickes Buch vor sich auf dem Pult, und tauchte die Feder in regelmäßigen Abständen in das Tintenfässchen. Sorgfältig schrieb er Zahlen in eine Liste. Verblichene und frische Tintenflecke färbten seine Fingerkuppen. Als Magdalene neben ihn trat, sah er kurz auf. »Ach, du bist es«, murmelte er, »achtunddreißig und drei Quent und Muskatenöl sieben … Gibt es etwas?«
»Ich habe da ein Anliegen«, Magdalene zögerte.
Seine kurzen Finger fassten die Feder weit vorn. Er stieß immer wieder an den Rand des Fässchens und beschmierte sich mit der schwarzen Tinte. Georg Rehnikel war klein und dick, mit einer wachsenden Glatze, die oben auf dem Kopf spiegelte und von einem Kranz dunkler Haare umgeben war. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, kam er ihr mit seinem dicken Bauch und den weichen Bewegungen wie eine große Kugel vor. Seine Augen konnten vollständig rund werden, wenn er staunte. Wenn er ernst war, glänzten sie dunkel wie Flusskiesel, und die dichten schwarzen Wimpern ließen ihn sanft erscheinen. Georg Rehnikel war kein Kämpfer, sondern friedfertig und von ausgleichendem Charakter. Mit ihm konnte sie stundenlang ein Problem von allen Seiten beleuchten; wo sie sich in Zorn redete, blieb er voller Zurückhaltung und Sachlichkeit. Georg besaß einen glänzenden Humor, der in unerwarteten Momenten aufleuchtete, wie bei vielen Menschen, die gute Zuhörer sind. Er war kurzatmig, errötete schnell und schwitzte an warmen Tagen wie ein Käse in der Sonne.
Georg war schon achtundvierzig, also siebenundzwanzig Jahre älter als sie. Sein Alter brachte Lebenserfahrung mit sich, die ihm durch Menschenkenntnis und Gelassenheit erfolgreiche Geschäfte eintrug. Die nutzten allen.
Er legte die Feder zur Seite. »Was drückt dich, Lenchen?«
Verlegen knüpfte sie die Bänder ihrer Schürze. Sie musste es vorsichtig anfangen und durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
»Die Else«, sie trat einen Schritt näher, bis sie dicht vor ihm stand. »Wie lange willst du sie in unserem Haushalt behalten? Ich meine, wenn man älter wird, verliert man Kräfte und Fähigkeiten. Man merkt es Else schon an.«
Ein friedliches Lächeln ergriff sein rundes Gesicht. Die Knopfaugen glitzerten. »Du bist ein guter Mensch, Lenchen, sorgst dich um alle, nicht wahr?«
Sie schluckte. Georg glaubte an das Gute in allen Menschen. Seine Freundlichkeit nahm ihr den Wind aus ihren Segeln.
»Die Barmherzigkeit ist eine unserer wichtigsten Aufgaben im Leben«, erklärte er. »Ich freue mich an deiner Demut. Du tust, was unser Herr in der Heiligen Schrift sagt: ›Wer gütigen Auges ist, der wird gesegnet werden, denn er gibt von seinem Brot den Geringen.‹ Viel zu wenige Menschen sind von tätiger Liebe beseelt! Stell dir vor, wir würden die, die nicht mehr für andere arbeiten können, ihrem Schicksal überlassen. Wir hatten viele Jahre lang unseren Nutzen von ihrem Fleiß, deshalb sind wir ihnen schuldig, sie im Alter zu stützen. Genauso wollen wir es mit Else halten. Sie ist bald fünfzig, das heißt, sie kann noch gut und gern zwanzig Jahre bei uns arbeiten. Wenn sie eines Tages zu alt für die Arbeit ist, soll sie weiter bei uns bleiben. Sie kann in der warmen Stube sitzen und den Kindern Märchen erzählen.«
Magdalene schluckte. »Was wäre, wenn sie ausreichend Eigentum hätte, um sich selbst zu versorgen? Leinen, Geschirr, Bettzeug?«
Georg zuckte die Schultern. Seine Antwort klang unbesorgt. »Woher sollte sie das haben? Ihr Mägdelohn ist nicht hoch genug, dass sie sich Hausrat kaufen kann.«
Magdalene antwortete vorsichtig: »Sie könnte Geld gestohlen haben.«
Georgs friedliche Miene verschwand wie der Sonnenschein hinter einer fliehenden Wolke. Sein Finger ragte steil und tintenbefleckt in die Luft. »Else stiehlt nicht. Das sind böswillige Vermutungen. Schlechte Reden des einen über den anderen dulde ich in meinem Haus nicht.«
»Das ist nicht bloß Gerede, ich habe Fakten. Weißt du, was sie heute getan hat? Sie hat die Schüssel zerbrochen, in der ich das Fleisch pökele, und zwar mit Absicht …«
Noch während sie redete, merkte sie, dass das vor Georg wie Kleinkrämerei klingen musste. Eine zerbrochene Schüssel war in seinen Augen unwichtiger als ein heruntergefallenes Pfefferkorn. Was zeigte schon die Sache mit der Schüssel? Nichts. Schüsseln können nun mal herunterfallen. Das war kein Beweis für Elses Aufsässigkeit.
Sie setzte noch einmal zu reden an, wollte ein neues Beispiel nennen, aber Georg wiegte den Finger. »Sei endlich still! Ich dulde keine bösen Reden!« Er ließ den Finger sinken. »Es ist Sünde, seine Zeit mit Bosheit gegeneinander zu vergeuden.« Er tauchte seine Feder in das Tintenfass, bekleckerte sich erneut mit einem Tintenspritzer und schrieb weiter in sein Buch.
4. KAPITEL
In den Stunden nach dem Gespräch mit Georg brannte der Zorn gegen ihre Altmagd so heftig wie noch nie in Magdalenes Brust, aber je mehr Zeit verging, umso mehr beruhigte sie sich. Bisher hatten Elses Vorzüge die Nachteile überwogen, weil sie sich fleißig und geschickt anstellte und alle Arbeiten beim Kochen, Putzen und in der Vorratshaltung so perfekt beherrschte, dass man viel von ihr lernen konnte. Magdalenes zornige Gedanken bekamen im Lauf der folgenden Stunden helle Wölkchen. Nach drei Tagen konnte sie sich wieder vorstellen, mit Else friedlich zusammenzuleben.
Else musste früher eine schöne Frau gewesen sein. Das Besondere waren ihr Lächeln und das Strahlen ihrer blauen Augen, das sie manchmal zeigte, wenn sie sich unerwartet über etwas freute. In solchen Fällen schien es, als würde sie sich nach kurzer Zeit selbst zur Ordnung rufen, um zu ihrem gewohnten missgelaunten Gesicht zurückzukehren.
Das Beste waren Elses gutmütige Momente. Die tauchten hin und wieder zu Beginn der Dämmerung auf, wenn die Frauen die Arbeit in der Küche fast geschafft hatten und langsamer wurden, wenn ihnen die Arme vom Häckseln, Raspeln oder Kneten schwer waren, wenn das Licht sank und die Sehnsüchte sich auf das Abendessen richteten. In dieser Zeit konnte Else ins Reden kommen. Manchmal redete sie von früher. Alle alten Leute waren so, das wusste Magdalene. Die Jungen taten die schwere Arbeit und die Alten genossen das Privileg,