Die beiden Mägde sahen Magdalene mit geschlossenen Mündern an. Als sie ihrem Blick standhielt, senkte Sybille den Kopf und nahm den Krug von einer Hand in die andere, Maria malte mit ihrem Holzschuh im Sand.
»Ein schlechtes Gewissen ist der Grund für manche gute Tat«, sagte Sybille, und Maria ergänzte: »Gerade, weil er sich gut um Euch kümmert, würdet Ihr es niemandem sagen, wenn Ihr von seinen Untaten wüsstet. Wenn Ihr ihn verratet, kommt er ins Gefängnis, und Euch wird keiner mehr versorgen. Ihr müsstet zu Eurem Onkel zurück.«
Der Schreck ließ Magdalene verstummen. In ihrer Kehle stieg das Brennen auf, heftiger als in den Tagen zuvor. Maria flüsterte weiter: »Und überhaupt! Jemand, der einen Stoff in einen anderen verwandeln kann, wenn er das Richtige in den Topf tut, der kann auch Kinderblut gebrauchen.«
»So ein Unsinn«, stemmte Magdalene die Hände in die Seiten, »was sollte man mit so einer Zutat anfangen?«
Die Mägde sahen sie kopfschüttelnd an und sagten nichts. In ihren Augen standen hundert Antworten. Es war nicht notwendig, dass sie eine davon aussprachen.
Am Nachmittag besuchte Georg Rehnikel wie jeden Dienstag seine Erbauungsstunde. Auf solchen Versammlungen trafen sich Männer und lasen gemeinsam aus der Bibel. Studenten, die mit Magister Thomasius aus Leipzig gekommen waren, hatten mit dieser Sitte begonnen. Inzwischen waren die Zirkel nicht mehr geheim wie früher und die Leute sprachen offen darüber. Das bedeutete nicht gleich, dass man mit der Einstellung Beifall erntete. Viele redeten wie Magdalenes Onkel: »Wie kann es richtig sein, dass jeder Dummkopf meint, die Heilige Schrift persönlich auslegen zu müssen!«
Unstimmigkeiten dieser Art zwischen Magdalenes Mann und ihrem Onkel waren in den vergangenen zwei Jahren deutlicher geworden, bis der Onkel keine Einladungen mehr aussprach. Das tat ihr leid, weil Onkel Conrad, Tante Dorothea und ihre Familie Magdalenes einzige Verwandte waren. Aber eine Frau muss ihrem Mann folgen. Seitdem hatte Magdalene die Pflichtbesuche bei der Tante eingestellt, die ihr erlaubten, ihre alte Amme in der Küche aufzusuchen und ein Stündchen zu plaudern.
Was die Lehren des Pietismus anging, stimmten Magdalenes eigene Ansicht und Georgs begeisterte Überzeugung überein. Sie mochte es, wenn er abends die lederbezogene Bibel aufschlug und ihr erklärte, welche Erkenntnisse er in seinem Zirkel gewonnen hatte. Sie sah seinen Finger über die gedruckten Buchstaben gleiten und hörte, wie seine Stimme vor Eifer vibrierte. Er ermunterte seine Frau, gute Werke zu tun, denn das sei, sagte er, der tätige Beweis für Gottes Liebe.
In Georgs ausgleichendem Wesen gab es, von den Spezereien abgesehen, nur die eine Leidenschaft, der pietistischen Lehre zu folgen. Frieden und Einigkeit waren seine Maximen. Sein Charakter, soweit sie ihn kannte, und die Wahrheitsmilch würden Magdalene helfen, dass sie von Georg etwas über das Kind erfuhr. Sie schüttete an diesem Abend wieder einen Löffel der Wahrheitsmilch in sein Bier. Mit aller Macht zwang sie sich zur Freundlichkeit, obwohl schwarzes Misstrauen in ihr loderte.
Sie würden im Erkerzimmer essen, und das traf sich für Magdalenes Zwecke gut. Dann lauschte keine der Mägde, sie würde ruhig mit ihrem Mann zusammensitzen und ihm zuhören. Gertrud trug das Brot und den Käse nach oben. Magdalene brachte die Kanne mit dem Bier und setzte sich zu Georg, der auf sie wartete.
Seine Stimme klang freundlich. Er wollte wissen, wem von den Armen sie an diesem Nachmittag Brot gebracht hatte, und erzählte von der gerade hereingekommenen Lieferung, einem kleinen Paket Quecksilber, aus dem er am folgenden Tag Calomel herstellen wollte, ein Präparat, nach dem die Apotheken verlangten. Er schnitt eine dritte Scheibe vom Brot und zog den Käse zu sich herüber. »Die Erbauungsstunde war heute gut besucht. Wir haben aus dem Matthäusevangelium gelesen«, fuhr er fort zu erzählen. »Lasset die Kinder, und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen, denn solchen gehört das Reich der Himmel.«
»Über Kinder habt ihr gesprochen?«, fragte sie erstaunt.
»Ja, über Kinder«, nickte er, biss in sein Brot und kaute gierig.
»Du …«, begann Magdalene zögernd und sah ihn an. Seufzend legte er das Messer aus der Hand. »Was ist«, fragte er mit der Ergebenheit eines Mannes, der weiß, dass er seinem Schicksal nicht entkommen kann.
»Es ist ein Zeichen, dass ihr über Kinder gesprochen habt. Ich muss mit dir reden, über ein Kind. Ein Gerücht«, begann sie vorsichtig.
»Mein Gott«, er verdrehte die Augen, die Adern an seinen Schläfen begannen zu schwellen, »fang nicht schon wieder mit so etwas an.« Er griff nach seinem Messer.
Sie legte ihre Hand auf seine. »Wenn ein Gerücht über die Gassen läuft, das dich betrifft, müssen wir das nicht ernst nehmen?«
»Das wäre etwas anderes«, er kaute missmutig, »es darf dem Geschäft nicht schaden.«
Sie zögerte, der Mut drohte sie zu verlassen. Die Spannung siegte. »Die Leute sagen, hier im Haus wäre ein Kind getötet worden.«
»Was?« Er sah sie mit großen Augen an. Sein Blick versprach völlige Unschuld. »Getötet?«
»Mit einem Messer erstochen«, sagte sie, »umgebracht.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Das Grinsen wuchs bis an die Ohren, sein Mund öffnete sich, bis er »Haha!« sagte. Für ein Lachen klang es nicht echt genug. Es kam ihr vor, als ob er Zeit für eine unverfängliche Antwort schinden wollte. Er zog seine Hand aus ihrer und legte sie auf ihre Schulter. »Du glaubst den Unsinn doch nicht etwa? Du lebst drei Jahre mit mir zusammen und gehst solch einem dummen Gerücht auf den Leim? Lenchen, du solltest mich besser kennen. Hol den Hans, damit er uns Gute Nacht sagt.«
Er wandte sich dem Käse zu. Die Sache schien so lächerlich zu sein, dass er noch grinste, als er mit seinem Messer ein weiteres dickes Stück Brot abschnitt.
Immerhin hatte er gelacht.
Magdalene war nicht danach zumute, mit ihm zu lachen. Sein Bierkrug stand unberührt auf dem Tisch. Er hatte während des Abendessens nicht einen einzigen Schluck davon getrunken.
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