Am Abend, das Knie der ein Jahr jüngeren Siegtraut im Kreuz, den riechenden Fuß der zwei Jahre jüngeren Anneruth an der Nase und das Geschrei der neu geborenen Irmel im Ohr, hörte Elsa die Mutter noch lange mit der Base tuscheln. In Elsas Traum tauchte Jost auf. Ihm hätte sie am Nachmittag gerne Danke gesagt für seine Idee mit der Briu.
Tags darauf ging die Kunde von Mund zu Mund. Eine Kunde, die alles Schauderbare überstieg. Und als die Neuigkeit bis auf den Mälzer-Hof rollte, musste Elsa die ganze Zeit an Andres Hinterthurs Worte denken.
„Ist die Riegerin also unschuldig gestorben?“, fragte das Mädchen, als die Klatschtanten von dannen gezogen waren. Wenn man ihnen glauben wollte, war noch am selben Tag, als man die Margarete Rieger zu Tode brachte, der Priester Czeppil doch noch aufgetaucht, unpünktlich zwar, und auch nicht in guter Verfassung. Tot. Nicht etwa selig entschlafen in seinem Daunenbette, sondern eingeschlossen und elendiglich wie ein armer Sünder unter der Erde in einem alten, halb verfallenen Fluchtgang, der von der Kirche in die Wälder führte, krepiert. Erstickt? Konnte man vor Angst sterben?
„Gottes Wille!“ Beim Sprechen zitterten die Zipfel der Hörnerhaube der Base. Der Einsiedler habe den Priester gefunden, hieß es weiter. Der Priester hatte den Bauer Rieger auf dem Gewissen, raunte man. Den Mord hatte demnach nicht die Riegerin begangen?
„Also ist sie unschuldig verurteilt worden“, schlussfolgerte Elsa, weil es die Erwachsenen nicht taten.
Ein Ersatz für die Pfarre fand sich so schnell nicht. Die Menschen fühlten sich von Gott im Stich gelassen. Ein gewisser Priester Simon Horn kam für die Predigt ins gottlose Dorf. Es kursierten zweierlei Ansichten: Die einen meinten, dass der Riegerin ein Unrecht angetan worden war, wofür jetzt die Gemeinde büßen sollte. Die andere besagte, dass allein die Hexenkunst der Riegerin den Priester Czeppil im wahrsten Sinne unter die Erde gebracht hatte.
Letztere Meinung erhielt Zuspruch, als auf den fruchtbaren Lenz eine beschwerliche Hitze im Sommer folgte. Der Sonntagspfaff Simon Horn hatte keine tröstenden Worte und man schob die Dürre auf die Hexe, die den Pfarrer vor ihm ermordet haben soll. Der verwaiste Riegerhof im Norden der Parochie wurde zunächst gemieden, dann aber, eines Nachts, brannte er lichterloh. Gott sei Dank! Man war froh, als das Unglück bringende Gehöft weg war. Regen aber kam trotzdem keiner.
Die Felder drohten zu vertrocknen. Gebete wurden lauter. Elsa musste hart anpacken, die goldgelbe Gerste mit Kübeln aus dem Schwarzbach bewässern.
Auf dem Hinterthur-Hof wurden Leitungen aus Holz gelegt und ein Esel im Göpel um den Brunnen laufen gelassen, um stetig Wasser zu schöpfen. Das schütteten die Jungs in die Rinnen, die dann das Wasser direkt auf die Felder führten. Die Hinterthur-Mädchen, Johanna und Maria, spornten den Esel mit Streicheleien zwischen den Ohren und Löwenzahn an.
Elsas Vater hatte weder Söhne noch Geld für Brunnen, Esel und Göpel. Nicht einmal genügend Löwenzahn wuchs auf der dürren Wiese vor dem Haus. Also mussten die beiden ältesten Mälzertöchter die Wasserkübel zum Feld schleppen. Jeden Abend sanken sie mit berstenden Rückenschmerzen, wunden Händen und Füßen auf das Lager.
Elsas zunächst dankbare Erinnerung an Meister Hinterthur schlug um in jene abgrundtiefe Abneigung, die sie von ihren Eltern vorgelebt bekam. Ihre abendlichen Gebete waren weder von christlicher Nächstenliebe noch von Demut und Reue bestimmt. Sondern von Neid. So fügte sie heimlich jedem Gebet an, den Hinterthur sollte der Blitz treffen.
Auf jede Dürre folgt ein Regen. Regen kam so viel, dass es den Leuten in der Parochie auch wieder nicht recht war. Ein heftiges Wetter im Spätsommer peitschte die Gerste und ließ den Fluss über seine Ufer treten. Jetzt mussten die Mälzertöchter die Wasserkübel aus dem Hause tragen. Das Strohdach war so marode, dass es dem Gotteszorn nicht standhalten konnte und mit einem heftigen Wuschsch einfach in sich zusammenfiel. Nun war die Gerste zwar prall gegossen, aber die Familie saß ohne Dach über dem Kopf im Nassen.
Es gab genügend Dörfler, die ein Erbarmen hatten, und die Kinder getrennt – nicht alle vier auf einmal! – für ein oder zwei Tage aufnahmen, so lange Johannes Mälzer das Stroh auf dem Dach erneuerte.
Auch die Reinhildin, von Gottgefälligkeit getrieben, bot an, eines der Kinder zu nehmen. Sie hatte ein Auge auf die stille Anneruth geworfen. Mit ihr würde sie ein paar Tage lang gut zurechtkommen. Katharina Mälzer aber wollte keines ihrer Kinder ins Haus derjenigen geben, die schlecht über sie sprachen.
„Denk doch mal nach, Weib“, forderte Johannes Mälzer. „Lass uns die Große geben. Die soll tüchtig helfen und dann das Rezept auskundschaften.“
Das Letzte, was Elsa wollte, war zu den Hinterthurs zu gehen. Und wenn dort fünf von Josts Sorte wohnen würden. Vor der Reinhilde hatte sie Angst. „Bitte, Herr Vater, steckt mich nicht zur Reinhildin!“ Elsa schwor, fleißig beim Dachdecken zu helfen. Sie versprach, die Strohbündel selbst zu schnüren und wenn sie noch so viele Flöhe davon bekam. Sie gelobte, bei der nächsten Dürre das Feld ganz allein zu bewässern … alles, nur nicht zu den Hinterthurs! Aber das Betteln half nichts. Elsa musste fort, weil Johannes Mälzer das Geheimnis von Hinterthurs Erfolg wissen wollte.
Und die Reinhildin konnte wohl kaum ihre Mildtätigkeit Lügen strafen, indem sie die älteste Mälzertochter nicht aufnahm.
Hier ging es anders zu als daheim: Die Kinder aßen mit den Eltern am Tisch. Sie durften sogar sitzen. Auch wenn sie als Letzte etwas zu Essen bekamen, wurden sie doch satt. Nach dem Gebet wurde die Mahlzeit nicht schweigend eingenommen, wie es bei den Mälzers an der Tagesordnung war. Wer beim Essen sprach, verlor Gottes milde Gabe und die Speise verkehrte sich in Schlechtes. Nein, hier unterhielt man sich: Die Erwachsenen sprachen mit den Kindern!
Elsa aber schwieg, weil sie ja nicht wollte, dass Gottes gute Gaben sich beim Sprechen mit dem Verderbten des Alltäglichen in Schlechtes verwandelten.
Wie es ihr der Vater aufgetragen hatte, lauschte das Mälzer-Mädchen jedem Wort und merkte sich alles ganz genau. Doch ein Geheimnis, eine Rezeptur konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Elsa musste die Briustube putzen. Es schien ganz so, als taten die Hinterthurs nichts anderes, als den lieben langen Tag zu putzen. Sobald ein Maischekübel abgeschöpft war, wurde der geschrubbt. Elsa konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater je einen Maischekübel sauber gemacht hätte. Hinterthurs Lauge stank zum Himmel und bald bildete sich Elsa ein, dass sie genauso roch.
Die Eltern und die Buben hatten ihre Stuben oben, unter dem Dach. Die Mädchen nächtigten im Erdgeschoss. Sittsamkeit wurde hier geachtet. Elsa lauschte dem Spiel der Erwachsenen. Geräusche, fremd und Ehrfurcht einflößend wie eine Verlockung, wie eine Weise in einer fremden Sprache drangen zu ihr und jagten ihr Schauder über den Rücken. Sie fragte sich, ob es Jost auch hörte und wenn ja, ob er dann ebenso peinlich berührt war wie sie.
4
Deshalb währt die Strafe,
so lange die Selbstverachtung währt.
Das ist die wahre Buße im Innern, nämlich
bis zum Eingang ins Himmelreich.
Elsa schlief unstet unter dem fremden Dach. Der Regen trommelte unaufhörlich, blieb aber draußen. An den Dielen über dem festen Fundament vermochte er nicht zu saugen. Die Kleine hockte in einem Lehnstuhl mit Polstern und Wolldecke wie ein aufgeplustertes Vögelchen. Die Hinterthur-Mädchen, Maria und Johanna, schliefen in einem richtigen Himmelbett. Sie rochen auch nicht säuerlich. Elsa vermisste ihre Schwestern. Das Heimweh jedoch wurde gemildert durch die Gewissheit, Jost ganz nah zu sein.
In der zweiten Nacht wurde Elsa aus ihrem Dämmer von einem Klacken und Klimpern geweckt. Es war kein so einschüchterndes, alles zum Stillstand bringendes Geräusch eines Tieres, das sich Zugang zu etwas Essbarem verschaffte, oder der Trieb der Erwachsenen. Elsa sortierte