Der Blick, den die Eheleute Tylike miteinander wechselten, entging Elsa nicht. Tylikes Miene: nichts als Wut. Seine fleischigen Wangen waren vor Anspannung gerötet wie bei einem fiebernden Kind. Auf seinen Schläfen glänzten Schweißperlen. Er packte Reinhilde am Ärmel, befahl seinem Sohn im barschen Ton, ihnen zu folgen. Zu dritt verließen sie die Küche nach nebenan in die große geräumige Wohnhalle, deren Fenster auf die Gasse hinaus gingen. Tylikes Stimme presste sich zwischen seiner Wut und dem Bemühen, leise zu reden, hervor, sodass Elsa kein Wort verstand. Peternelle machte nicht den Eindruck, an dem Wutausbruch ihres Dienstherrn interessiert zu sein. Sie war eine aufmerksame Beobachterin ihrer selbst. Beim Ansetzen der Getreidegrütze, beim Backen des Brotes und der Wecken, beim Füllen von Saublase und Kalbshirn mit Griespaste, beim Drehen des Ferkelspießes, beim Flicken der Kleider, beim Waschen der Wäsche, beim Wirken der Wolle … bei allem, was Peternelle tat, vergaß sie nicht, darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich zu schade dafür und zu Höherem bestimmt sei. Sie nutzte jede Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, während an Elsa ein Großteil der Arbeit im Brauhof hängen blieb. Tylike nutzte aus, dass Elsa einer Brauerei entstammte. Er trug ihr alle möglichen schweren Aufgaben auf, für die sich Peternelle dumm stellte. Elsa wusste, auf sie warteten heut Dutzende Sudpfannen. Zum Schrubben. Geerbte Pflicht der Reinhilde.
„Du musst mir helfen, Kind.“ Von der Tylikin so abrupt angesprochen, stolperte Elsa über ihre schweren Holzschuhe, weil sie sich nach Peternelle umsah. Die war über alle Berge. „Lehm, Stroh …“, zählte die Reinhildin an der Rechten ab, „… Wasser aus dem Brunnen, rasch!“ Der erhobene Daumen zeigte die Richtung an, in die Elsa mit dem Gewünschten zu kommen habe.
Es klingt wie Stein auf Stein, wenn die Hacke auf die gefrorene Erde trifft. Der Lehm ließ sich nur müßig bergen. Fast gar keine Scheiße förderte sie zutage. Elsa hatte Glück, dass die Reinhilde nicht im Hochsommer auf diese Idee gekommen war. Das Stroh hingegen lebte vor Flöhen.
„Hast du den Lehm in Kunnewalde geholt, oder wo?“, missbilligte Reinhilde, dass die Magd so lange gebraucht hatte. Elsas Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit des Dachbodens. „Komm schon!“ Ihre Stimme kam von dort, wo in der vergangenen Nacht der Halbtote abgeladen worden war.
Wie wenn man Kuhscheiße in einen Suppersud rührte, roch es auf dem Dachboden. Zum Mäusedrecksgestank kam der beißende, süßliche Geruch von offenen Wunden, der metallische von Blut und das Muffige von feuchter Kleidung entgegen. Ein Schaudern fuhr in Elsa beim Anblick schmieriger Leinenfetzen. Den Verletzten selbst konnte sie lediglich als Schattengebirge vor dem Flackerlicht der Binse und dem einfallenden Licht durchs Loch im Giebel erkennen. Das Loch war Elsa vergangene Nacht nicht aufgefallen. „Wer ist das?“, fragte sie, und stellte die beiden Eimer ab. Zur Antwort nur ein „Pssst“. Dann wurde sie an beiden Schultern gepackt und der Blick auf den Verwundeten wurde ihr von Reinhilde versperrt. „Frag nicht“, taxierte die eine die andere. „Frag bloß nicht wieder!“
„Einer der Geäch…“
„Ich sagte, frag nicht!“ Wieder Reinhildens Zischeln, dieses Mal begleitet vom erhobenen Zeigefinger.
„Andres?“ Elsa bemühte sich, einen Blick auf den Mann zu werfen.
Reinhilde fuchtelte mit den Händen herum, als wolle sie eine störrische Fliege vom Apfelmus fernhalten. „Hilf, das Loch zu stopfen!“
Sie mussten die Pritsche mit dem nicht gerade federleichten Mann ein Stück Richtung Tür ziehen, damit Elsa an das Loch in der Wand herankam. Der Lehm war steif vor Kälte, das Stroh blieb nicht richtig haften. Es war unnötig, Reinhilde darauf hinzuweisen, dass es nicht die geeignete Jahreszeit dafür war, Fachwerk auszubessern. Reinhilde bemerkte es selbst und half der Jüngeren beim Anrühren der Masse.
„Raus mit dir und zu keinem ein Wort! Auch meine Töchter dürfen nichts davon wissen!“, sagte Reinhilde, als das Gefach geflickt war. „Johanna ist ein Klatschmaul und Maria verhuscht.“ Die Reinhildin hatte recht. Dies waren keine so günstigen Charaktereigenschaften, wenn es darum ging, ein Geheimnis zu wahren. „Wenn du einer Seele auch nur eine Silbe von ihm …“ Sie deutete auf den Verwundeten, … erzählst, dann …“
„Ich weiß.“ Elsa vervollständigte Reinhildens Drohung mit der Geste, ihres Zeigefingers, der über ihre Kehle strich.
Ein Stöhnen riss beider Aufmerksamkeit an sich. Reinhilde drehte sich zur Pritsche um, beugte sich über den Körper. Elsa erkannte im tänzelnden Licht der einsamen Binse kaum etwas, nur die Dämonen, die das zuckende Flackern auf der unebenen Fachwerkwand zum Leben erweckte, dass es sie ängstigte. Was der Mann murmelte, verstand Elsa nicht.
15
Diese Furcht und dieser Schrecken ist an sich selbst – von anderen zu schweigen – groß genug, um die Qual des Fegefeuers zu schaffen, da sie dem Grauen der Verzweiflung am nächsten kommt.
Über den Tag beobachtete Elsa die Veränderungen im Hause, die die Geschehnisse mit sich gebracht hatten: Gespräche verstummten, wenn die Mägde hinzukamen, der Braumeister, sein Sohn Gunnar und die Hausherrin Reinhilde wechselten Blicke, die Elsa nicht deuten konnte. Sie gaben sich Zeichen, wenn es die Situation verbat zu sprechen. Auch mogelte Reinhilde die Wäsche des Fremden unter die Hauswäsche. Die Kleidung des Fremden mochte Peternelle für Gunnars halten, der schon manches Mal verdreckt von oben bis unten heimgekehrt war, weil er im Suff durch die Gassen stolperte.
Außerdem beobachtete Elsa ein reges Kommen und Gehen. Nicht nur die übliche Kundschaft in der Brauerei beobachtete sie: Piechkarren trafen ein, die im Neißegässel unter dem Hallengewölbe durch die große Hallendurchfahrt auf den Hof fuhren, um die leeren Fässer zu bringen, denn auch die Schultheißen, der umliegenden Dörfer kauften hier. Auch die Ratsleute stellten sich ein, mit dem Tylike zu reden. Elsa hörte obendrein, das stete Klimpern, das mit der Reinhildin hinauf zum Dachboden wanderte.
Das Klimpern eilte der Reinhilde voraus, es ging neben ihr her, es verfolgte sie, es kündigte sie an. Das Klimpern verriet allen im Haus, wann die Frau nahte, wie weit sie sich entfernte, ob sie sich entfernte. Mit dem Tod ihres ersten Mannes hatte sich Reinhildes Gemüt noch mehr verhärtet. Aus der Städterin, die versuchte eine Dörflerin zu werden, war eine Städterin geworden, die versuchte, die Jahre auf dem Lande zu vergessen.
War das Klimpern stakkatoartig, drohte ein Unwetter, denn dann marschierte Reinhilde auf der Suche nach dem Sünder durchs Haus und durch die Brauerei. Hörte man das Klimpern gleichmäßig, melodiös, dann konnte man beruhigt seiner Arbeit nachgehen, ohne Schimpf und Schelte zu befürchten. Wurde das Klimpern aber erstickt, und ebbte dieses blecherne Rasseln auch nach einer gewissen Zeit nicht ab, so wusste man, dass Reinhilde mit dem Schlüsselbund an ihrem Hüftgurt spielte. Dieser nervösen Angewohnheit lief sie immer dann auf, wenn sie verunsichert war. Verunsicherung stand der stolzen Brauersfrau nicht gut. Verunsicherung konnte sie nicht leiden. Und dann war jedem geraten, ihr aus dem Wege zu gehen. Jetzt also stießen die Schlüssel von Reinhilde entschlossen mit jedem Schritt, den sie hinauf auf den Boden tat, gegen ihre Oberschenkel und gaben ein rhythmisches Schellen von sich.
An diesem Tag setzte die Reinhildin ihre kostbaren Kleider, den prächtigen Atlas und die teure Seide mehrmals dem Staub und Mäusedreck – und der fetten Ratte – im Dachgeschoss aus. Und ein weiteres Mal hieß sie Elsa, ihr zu folgen. „Du machst da oben reine. Und mucksmäuschenstill! Und wo steckt eigentlich Peternelle?“
Peternelle war unauffindbar. Also machte sich Elsa allein an die Arbeit. Nie zuvor hatte irgendjemand daran Anstoß genommen, in welchem Gestank und Mist die Mägde hausten. Nie zuvor hatte man den Mädchen die nötige Zeit eingeräumt, das Unersetzliche zu tun. Sie unterdrückte ein Husten, als der Staub unterm Besen aufwirbelte. Sie gönnte sich und Peternelle einen Sack frischen Strohs. Die Mäusescheiße hatte sich über Jahre angehäuft, mit Staub