„Dein Vater, Gott sei ihm gnädig, der würde sich im Grab umdrehen, Bengel!“, raunte Weidner, scheute aber den Blick ins Gesicht des Jüngeren.
Christian, Zeit seines Lebens mit seinem Vater uneins, spuckte am Weidner vorbei an die Wand. Er wusste, dass sein Vater, der Schmied, seinerzeit mit dem Druckermeister gut bekannt war, aber sein Vater war tot und hatte gar nichts mehr zu melden.
Sollte der Druckermeister doch in seinem Gewölbe vermodern! Christian wandte sich ab und ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder hinauf.
13
Die Sterbenden werden von alledem gelöst und sind für die Bußsatzungen bereits gestorben,
haben somit Kraft derselben Befreiung erlangt.
Druckermeister Ignatius Weidner lauschte dem Widerhall der Stiefelabsätze auf den buckligen Steinplatten in der obigen Wohnhalle, folgte ihnen durchs Haus, ins kleine Ladenlokal, das sein Vater seinerzeit zur Nikolaigasse hinaus eingerichtet hatte. Dann war es totenstill. Die Geräusche der Gasse hallten nicht bis hier herunter. Ignatius brauchte noch ein, zwei Momente, bis er von der Gewissheit beseelt war, die Stadtdiener seien verschwunden.
Er hastete hinüber in den angrenzenden Raum, ging vor der Hochdruckpresse in die Knie und schaute unter den Drucktisch. „Alles in Ordnung?“, fragte er unter die Tischplatte.
„Ja, aber das Seil schneidet allmählich ein“, kam die Antwort unter dem Tisch hervor.
Ignatius nickte, was sein Sohn nicht sehen konnte, weil er von unten an den Tisch geschnürt war. Der Alte schnitt Matthes vom Tisch ab. Der krabbelte unter der Presse hervor, blieb aber auf dem Boden sitzen. „Ich kann hier nicht bleiben, Vater. Das wird zu gefährlich.“
Ignatius nickte. Er hatte so viele Fragen an seinen Sohn. Er begriff nicht, wie es so weit hatte kommen können, dass man Matthes als Geächteten suchte. „Wieso?“, war das Einzige, was er herausbrachte. Wieso ward ihr so leichtsinnig? Was ist nur in euch gefahren?, wollte er fragen, schüttelte aber den Kopf. Sein Sohn war schon immer der Hitzkopf gewesen, dem die Druckerei zu klein, die Welt aber zu groß war.
Matthes zeigte ein unsicheres Lächeln. „Weil es sein musste, Vater … Ich muss Carolina finden.“
Carolina, das Mädchen, aus dem Anhaltischen. Ignatius hatte in einem von Matthes Briefen von ihr erfahren, wollte sie aber nicht wahrhaben, wollte nicht, dass Matthes mit einer Küchenmagd anbandelte, wo sein Weg für die Bürgerstöchter oder allemal für Gottes Werk geebnet war. Ignatius erwiderte nichts. Es war nicht an der Zeit, seinen Sohn wegen seiner Wahl zu ermahnen. Er nickte nur und rang Matthes das Versprechen ab, achtsam zu sein.
„Es ist vermutlich tagsüber ungefährlicher als nachts“, sagte er und war schon fast aus der Druckerei verschwunden. Und doch drehte sich Matthes noch einmal um. „Ich hoffe, Andres hat es überlebt. Sie haben ihn halb tot geprügelt. Um ihn müssen wir uns sorgen, nicht um mich. Bitte, finde heraus, wie es ihm geht.“
Ignatius nickte. Andres war ihm wie ein Mitglied der Familie, wie ein Sohn, seit er damals gemeinsam mit Matthes die Lateinschule besucht hatte. „Ich schließe ihn in meine Gebete ein, genau wie dich und …“, gib dir einen Ruck, alter Knochen! „… Carolina.“
Matthes zeigte ein Lächeln, kam die wenigen, sie voneinander trennenden Schritte zurück und umarmte seinen Vater fest. Mit flatternder Schaube und tief ins Gesicht gezogenem Barett lief er auf die Gasse. Ignatius blieb zurück und wusste nicht, wann er wieder von seinem Jungen hören würde. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Gefahr nicht vorüber war und dass irgendetwas Unheilvolles auf sie alle zurollte. Aber er hätte nicht in Worte fassen können, was es war.
14
Ein unvollkommenes Genesen von der Sünde oder eine vollkommene Liebe des Sterbenden erzeugt naturgemäß eine große Furcht, die umso größer ist,
je geringer jene waren.
Durch gewaltiges Donnern und Rütteln am Hallentor schreckten sie zusammen. Elsa war gerade mit dem Scheuern der Scherben vom Morgenmahl beschäftigt, als eine Handvoll Büttel in die Küche gerauscht kam wie eine verfrühte Schneewehe. Ihre Schwerter klapperten in den Gurten, während sie hastig und mit zackigen Fragen auf den Lippen jeden Korb, jede Kiste umdrehten, jede Luke, jede Türe aufrissen. Aus dem Spektakel, das sie veranstalten, erfuhr Elsa, dass sie nach drei Geächteten suchten. Es fielen keine Namen. Auch auf Nachfrage wurden nicht die Namen der Gesuchten genannt.
„Woher sollen wir dann wissen, dass es die Geächteten sind, wenn wir sie vor die Nase kriegen?“, fragte die Reinhildin und stellte sich dümmer als sie war. Sie bekam keine Antwort. Reinhilde beobachtete das Spektakel um sie herum mit interessierter, wachsamer Miene, so als wollte sie sich jede Regung der Büttel einprägen. Dem Alter versagte Reinhilde sein Recht. Ihre Haut zeigte sich nach wie vor blass und glatt wie Milch. Schuld an den Runzeln um den Mund und auf der Nase war jemand anderes: Verbitterung, tief gegrabene Verbitterung. Allein ihr Hals, quer aufgeworfen wie die Seide einer Hörnerhaube, erzählte von den Jahren der Frau. Elsa bemerkte, dass Reinhildes Finger zitterten und sich am Schlüsselbund festhielten. Das sonst so nervtötende Klimpern klang stumpf. Seit dem Tod ihres Orwid und der Heirat mit dem Tylike war Reinhilde Hüterin der Schlüssel.
Peternelles dummes Gekicher riss Elsa aus ihren Beobachtungen. Was Elsa längst begriffen hatte, dass das Auftauchen der Büttel mit den nächtlichen Umtrieben im Hause zu tun haben musste, begriff Peternelle nicht. Ein Hieb von Reinhildens Schlüsselbund auf ihren Allerwertesten brachte Peternelle zur Ruhe.
Auch Niklas Tylike und Gunnar verfolgten mit einer gehörigen Portion Argwohn die Hausdurchsuchung. Elsa hätte Niklas Tylike alle möglichen Laster zuschreiben können: Völlerei, Trunksucht, Aufschneiderei und Überheblichkeit, aber er war auch ehern. Reinhilde hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Orwids Zunftzeichen zu ehren. Dessen Braukunst fortzuführen, bedurfte es eines Braumeisters. Ganz gleich, was für einen. Reinhilde führte das Regiment, vertreten durch Niklas Tylike. Der würde dichthalten. Es hing viel zu viel von einer gut funktionierenden Brauerei ohne Skandale ab.
Eben, als die Büttel die Stiege zum Dachboden hinaufgingen, heftete sich der beleibte Brauer mit meisterlicher und nie vermuteter Wendigkeit an deren Sohlen. Er faselte von seinem letzten Brautag. Der war gestern gewesen. Und, da er den einen oder anderen Büttel gelegentlich in seinem Ausschank begrüßen durfte, fragte er nun nach deren ehrlicher Meinung, was den Biergeschmack anbelangte. Tatsächlich ließen sich die beiden Stadtdiener, die den Dachboden zu inspizieren trachteten, auf ein Gespräch, die Cervisiae betreffend, ein. Beide hatten vom Brauen so viel Ahnung, wie man es brauchte, um das Brunnenwasser abzukochen und ihm mit Gewürzen und Getreide Geschmack und Leben einzuhauchen, aber das eigentliche Handwerk steckte im Mälzen.
Niklas’ Zunge arbeitete effizient, wenn es ums Verkosten und Fachsimpeln ging. So gelang es ihm, die beiden Büttel in einen Diskurs über das Tylike’sche Produkt im Vergleich zu dem des Nachbarn, der der Reihe nach den nächsten Brautag und abendlichen Ausschank haben würde, zu verwickeln. Er brachte die Stadtdiener dazu, den Dachboden nur eines streifenden Blickes zu würdigen.
Elsa konnte hören, wie Reinhilde erleichtert aufatmete, als die Büttel überzeugt davon waren, hier keinen Geächteten, aber die beste