Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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nicht zum Image unseres Verlagshauses. Ich kann Ihnen aber eine geistreiche Alternative vorschlagen.» Und so wurde «chez darwin» zum kurhotel «thoelke» – in meinen Augen der fürchterlichste Fehlschlag der Evolution. Nein, das möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen, möchte ich eigentlich nie vertiefen. Jedenfalls klingelte einige Tage, nachdem ich den drontenminister abgeschickt hatte, das Telefon, und Marsitzky begann grußlos: «Ihre Gedichte der weltbeste», Schlucken, «kregel und, äh, krümmungen des inneren außenministers reißen mich nicht vom Hocker.» Ich atmete Angst in den Hörer, und mein Lektor verlangte unwirsch zu wissen, was Dronten seien. «Vögel», erklärte ich verdutzt und bemühte mich, nicht herablassend zu klingen. «Ausgestorbene Vögel. Auf Madagaskar …» Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob die Dronten auf Madagaskar gelebt hatten, und fügte ein klägliches «oder so» hinzu. «Das versteht keiner», sagte Marsitzky. Mauritius? Haben die Dronten nicht auf Mauritius gelebt? «Soll ich die Dronten-Zeilen weglassen?», fragte ich. Natürlich haben die Scheißvögel auf Mauritius gelebt!

       «Nein, Sie sollten das ganze Gedicht weglassen! Vergessen Sie, dass Sie es jemals geschrieben haben! Es hat nicht das Niveau der schWEINe-essIG-Texte.» Niveau! Seit wann haben die schWEINe-essIG-Texte Niveau? Kann Kotze sprechen? Ernährt sich ein Tasmanischer Nacktnasenwombat von Altmetall? Wer ist unser lustiger kleiner Hauptbahnhof? Die schWEINe-essIG-Texte und Niveau! Dass ich nicht lache! Am liebsten hätte ich Marsitzky gesagt, wie seine «niveauvollen» Gedichte entstanden waren. Ich holte tief Luft. «Ich könnte Ihnen eine kleine Erzählung …» – «Herr Fahlmann! Die … ja … das mit Ihren Prosatexten haben wir zur Genüge durchgekaut. Ich brauche Gedichte, die mindestens die Qualität Ihrer alten Arbeiten haben. Zwei Gedichte! Gehobene Qualität! Spätestens nächste Woche. Guten Tag.» Er legte so schnell auf, dass mir das unausgesprochene «Auf Wiederhören!» wie Blei auf der Zunge liegen blieb. Nächste Woche. Muss mir beim Saufen wieder Notizen machen. Nicht mal in Frieden saufen lassen sie einen! Gehobene Qualität. Stehe ich unter Druck, klappt nichts, drontenminister, und kaum ist der Druck weg, kregel, schreib ich vier Gedichte auf einen Schlag. Muss aufpassen, dass Achim nichts mitkriegt. Qualität! Wenn Marsitzky «Qualität» sagt, klingt das verdächtig nach Güteklasse A. Weiß der Arsch nicht, was Dronten sind! Natürlich haben die auf Madagaskar gelebt. Nein, Mauritius. Vor der Weltkarte. Zumindest in der Nähe von Madagaskar. Östlich davon. Kein Kreuz drauf. Klar. Kenne auch keinen, der dort war. Irgendwann muss jemand die Marsitzkys ausrotten, flugunfähige, nacktgesichtige Saumenschen.

      «Was ist denn mit dir los?», fragte Susanne. Ich zeigte aufs Telefon. «Marsitzky.» – «Er wollte die Texte nicht?» – «Nein. Er will andere Texte. Güteklasse A.» – «Und was bedeutet das?» – «Viel Bier und auf der Couch schlafen!» Susanne hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Ihr Glück! Einmal hatte sie mich gefragt, ob es mir auf Dauer nicht langweilig würde, jeden zweiten Abend mit Achim in Mollingers Eck zu verbringen. «Ich denke nicht», antwortete ich, «dass mir das jemals langweilig werden wird!» Unser Platz hinter der Garderobe, heißt es im Notizbuch, gehört zu den wenigen Orten, wo ich mich wohlfühle und die ich Heimat nennen könnte. Heimat – sofort fällt mir mein Lesesessel ein: Nacht für Nacht erwartete er mich inmitten eines Lichtkreises, den die betagte Stehlampe mit dem großmütterlichen Schirm auf den Schlafzimmerteppich warf, sattgelbe Insel, auf dir treibe ich davon, ein Buch in Händen, die Tapeten verblassen, die Zeilen verschwimmen, Buchstaben verdichten sich zu Bildern, Raumschiffe, Serienmörder, und lediglich das Umblättern lässt die Wirklichkeit in Form einer schlafenden Schönen aufflackern, deren nackte Beine unter der Bettdecke hervorkommen, ovale Schattenteiche in den Kniekehlen. Susannes Haar ein auf dem Kissen liegender Fächer, neben dem Bett zerknüllte Söckchen, nahe der Tür ein abgestürzter BH mit verdrehten Schwingen – rasch blättere ich um und gleite kaum mehr Leib zwischen den Seiten davon.

      Selbstverständlich fühlte ich mich auch in der Küche wohl, eine Tasse auf der Fensterbank, den Notizblock daneben, dieses Halbleben zwischen Schlaf und Arbeit am Fenster, dieses träge Fischen nach Erinnerungen, dieses manische Umkreisen der eigenen Identität. Montags und mittwochs ging es danach zum Sargschleppen, manchmal musste ich auch zur Uni, aber am angenehmsten waren, ehrlich gesagt, die Tage, an denen ich mich nach der dritten oder vierten Tasse nicht zum Schreiben durchringen konnte und mich wieder ins ausgebombte Bett legte. Lesesessel, Küchenfenster, Bett, eigentlich habe ich mich im ganzen Haus wohlgefühlt – sogar manchmal am Schreibtisch auf dem Dachboden, obwohl ich es dort mit einer vorwurfsvoll glotzenden, störrischen Schreibmaschine zu tun hatte, der es immer wieder gelang, die flüssigsten Gedanken in holzig daher klappernde Sätze voller Anachronismen und schamloser Rechtschreibfehler zu verwandeln. Ob ich mich in dem Haus so wohlfühlte, weil ich darin meine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Ich stieg die Treppe hoch, und das vertraute Knarren einer Stufe verwandelte mich in einen Siebenjährigen; nachts schloss ich behutsam die Haustür auf, ein Jugendlicher, der sich bemüht, leise zu sein, damit die Eltern nicht merken, wie betrunken er ist; alle Gegenstände sprachen zu mir; im Herzen des Hauses wartete mein ehemaliges Kinderzimmer; und in den Aschenbechern auf dem Dachboden spukte der Geist meines Vaters. Für Susanne wären derartige Überlegungen Wasser auf die Mühlen ihrer Lieblingsthese: Du lebst zu viel in der Vergangenheit etc. «Und was ist daran schlecht?», hatte ich sie einmal gefragt. «Schlecht?» Sie überlegte. «Du lebst nicht in der Gegenwart.» – «Lebst nicht in der Gegenwart», äffte ich sie nach. «Was für ein Unsinn! Natürlich lebe ich in der Gegenwart. So wie du und Jens und Was-weiß-ich-wer-noch! Ich denk halt viel über das Vergangene nach. Daran ist nichts Verwerfliches. Das ist normal! Manche machen es sich leicht im Leben, andere etwas schwerer.»

      Diese Plattheit in den Ohren erscheine ich auf der Straße vor meinem Elternhaus. Den Nachbarn ist es ein Dorn im Auge. Ich kenne jeden Riss in der Fassade, das fleckige Rot der Ziegeln, die lecke Dachrinne, unter der Jahr für Jahr die Mauersegler nisten. Die Straße, die ich nun in Gedanken westwärts gehe, führt schnurstracks in die Innenstadt. Gegenüber der Metzgerei Kundel steht eine Tankstelle aus den fünfziger Jahren, deren futuristische Mütze, ein steil emporschwingendes Stück Beton, sich gut auf dem Titelbild eines SF-Groschenhefts gemacht hätte. Der Tankwart grüßt, ich grüße zurück und komme wenige Minuten später an der Bäckerei Gallinger vorbei, Jasmin steht mit bloßen sonnengebräunten Armen hinter der Theke, wir brauchen ja nicht über Literatur zu reden, Kleines, deine Wimpern, die langen, deiner Augen dunkele Wasser, sie sieht mich nicht, ich beschleunige, renne fast. Hinter der nächsten Kreuzung rotten sich etliche Geschäfte zusammen, Obst und Gemüse Kleibon für Susanne, Getränkeboutique Nobbinger für Heinz, der weiße Klotz des Zebra-Markts für uns alle. Kauft man hier ein, sagt man: «Ich gehe ins Dorf.» Läuft man jedoch weiter in westliche Richtung, wie ich es jetzt in Gedanken tue, überschreitet man bald die unsichtbare Grenze, die «das Dorf» von «der Stadt» trennt. Sofort werden die Häuser mondäner, höher, rücken enger zusammen – in den überseeischen Mustern einer bedrohlichen Fremde. Ich muss umkehren! Hier gefällt es mir nicht. Also gehe ich zurück, biege nach etwa einem Kilometer in eine Seitenstraße, Staubwolken hängen über dem Gelände einer Baustoffhandlung, das Kreischen von Kreissägen kommt vom Schrottplatz, Brachland, dann wieder Häuser und endlich stehe ich, ein Pilger, dessen Reise ein jähes und beglückendes Ende nimmt, vor Mollingers Eck.

      Ich entsinne mich mit Wehmut, wie Heinz mich an meinem fünfzehnten Geburtstag in seine Stammkneipe eingeführt hatte, die damals noch reichlich prosaisch Das Eck hieß. «Wer Haare an der Knolle hat», sagte er, als er mich seinen Saufkumpanen vorstellte, «darf auch einen heben!» Vater war nicht sonderlich begeistert, dass ich meine Samstagabende von nun an in einer Kneipe verbrachte, aber was wollte er tun, hatte ich doch in Onkel Jörg einen eifrigen Fürsprecher. Und so begann die Zeit des Taumelns, des In-den-Rinnstein-Kotzens, ich trinke mein erstes Bier auf ex, das Licht bricht sich in den Waben vorüberziehender Literhumpen, alles dreht sich, spielt Karussell, wie ein Möbiusband verbiegt sich der Heimweg ins Endlose, und mit dem Klappern des Frühstücksgeschirrs steigen befremdliche Bilder aus dem betäubten Kopfkissen. Dann kam die Zeit der Angst: Das Eck wechselt den Besitzer! Doch Mollis liebenswürdige Regentschaft übertraf alle Erwartungen. Seitdem sah man Heinz jeden Abend mit Nobbinger und Bäuchel am Tresen; er füllte die Aschenbecher, bestellte ein Bier nach dem anderen und kam jedes Mal, wenn ich mich mit Achim am europäischen Tisch besoff, auf ein Bierchen zu Besuch, ohne sich anmerken zu lassen, dass er meinen Freund nicht ausstehen konnte. «Nimm schon!», sagte