Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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Entomologe beobachtete mürrische alte Männer, die im Schlick nach Muscheln gruben. Die Hosenbeine hochgekrempelt watete er durch das warme Wasser, und als das Mittelmeer seine Füße umspülte, behutsam den Boden unter den Sohlen untergrub, sackte er tiefer in den Sand und versuchte wankend und armrudernd das Gleichgewicht zu wahren, Symbole, Wolken, Zeichen, Bahlow malte Schlaufen und Kreise in den Sand, ja, er fühlte sich tatsächlich wie die Figur in einem groß angelegten Spiel, die ihre ohnmächtigen Züge auf dem Brett (sei es zu Fuß durch Marseille oder mit dem Schiff nach Dar es Salaam) aus der Vogelperspektive verfolgt, und mit einer Wärme, die er nicht für möglich gehalten hätte, gedachte er seines Craniums, der bergenden Schale, die sein Ich vor dem Zugriff der anderen schützte. Der restliche Tag geizte nicht mit weiteren Botschaften. Natürlich wies die an einen Kutschverschlag gepinselte Abkürzung MDL auf seine Reiseroute hin (Marseille – Dar es Salaam – Lindi). Und bedeutete die Sandschnur im Treppenhaus, die plötzlich abriss, nicht die erzwungene Abreise aus Kiel? Von Eindrücken übersättigt fiel Bahlow in das zu weiche Bett.

      Als er erwachte, kam ihm sein Verhalten am Vortag lächerlich vor, diese krampfhafte Suche nach Zusammenhängen. Sie wollten, dass er nach Afrika fuhr, um Insekten zu sammeln. Also würde er es tun. Tat er das nicht, gaben sie den Behörden verfängliche Hinweise. Er verbummelte den Vormittag, gönnte sich den kostspieligen Luxus einer Rasur. Zur festgesetzten Stunde wartete er am Quai du Port und trank starken Kaffee aus einer verblüffend kleinen Tasse. Die Schattenblätter eines Lorbeerbaumes huschten über Tischplatte und Handrücken, Frauen, Mädchen, Bahlow vermied es, ihnen in die Augen zu sehen, erschienen sie ihm doch so unberührbar fern wie die exotischen Käfer in den versiegelten Schaukästen seiner Studienzeit. Schönheit bevölkerte die knöcherne Stadt, im Französischen heißt es «la mort», femininum, bloß nicht in die Augen sehen. Zu seiner Rechten bewachte das bleiche Fort Saint-Jean die Einfahrt des Alten Hafens, Bahlow fütterte die Tasse mit Zuckerstückchen und versteckte Kinn und Oberlippe in einer grüblerischen Hand, hatte doch die Konjunktion seiner empfindlichen Gesichtshaut mit dem schabenden Messer eines Marseiller Barbiers zu unappetitlichen Pusteln geführt, Pusteln, die aufplatzten, wenn er mit dem Fingernagel daran kratzte, Pusteln, die milchige Tropfen freigaben, durchzogen von feinen Blutfäden, Mädchen, Frauen. Der junge Mann, der in einem Café an der Hafenpromenade auf einen Außenagenten der Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas wartete, trug einen verdreckten Ulster (mit dem er erfolgreich eine ärmliche Tuchweste verbarg), der Stehkragen scheuerte am Sonnenbrand, und obwohl sich ein drittes Lebensjahrzehnt in Form eines straff gespannten Gürtels abzuzeichnen begann, wirkte Bahlows Erscheinung kraftlos und schwächlich, das Echo einer asthmatischen Kindheit in ständig wechselnden Seebädern. Frauen. Mädchen. Was, wenn sie alle nackt gingen? Sich vor ihm nach Münzen bückten? Ablenken. Muss mich ablenken, muss ganz Auge werden.

      Neugierige standen auf der Plattform des Forts Saint-Jean; als ironischen Kommentar zu Bahlows Warten ließ man ein Schiff in den Vieux Port einfahren: den Anker zum Grundfassen gerichtet, die Bugsprietwände losgehakt. Auch der lästige Mitreisende namens Strigaljow, der am Nachbartisch eine Zeitung in offenbar kyrillischer Schrift las, betrachtete das Schiff, und als sich ihre Blicke kreuzten, nickte die verhärmte Gestalt freundlich; Bahlow errötete vor Ärger. Nicht genug, dass ihm dieser Strigaljow während der Bahnfahrt unaufhörlich von den Abgründen der russischen Literatur berichtet und ihm kandierte Früchte aufgenötigt hatte, nein, der aufdringliche Bursche musste sogar in derselben Pension wie er Quartier beziehen, einer billigen Unterkunft, zu der eine Treppe von der Allée de Meilhan hinaufführte. Heute Morgen hatte Bahlow ihn im Frühstücksraum demonstrativ geschnitten. Unauffällig ließ er die Repetieruhr in der Hosentasche anschlagen: fünfzehn Uhr und fünfzehn Minuten. «Doktor Bahlow?»

      «Ja?»

      «Wir sind verabredet. Mein Name ist Kuider.» Der Greis legte einen Stock mit Elfenbeinknauf zu Bahlows weichem Hut auf einen freien Stuhl. Kuider trug spiegelnde Lederschuhe, eine einreihige Weste, gestreifte Kammgarnbeinkleider (dunkel), die Manschetten und Frontknöpfe glänzten golden. Bahlow war froh, sich eine schwarze Diplomatenkrawatte umgebunden zu haben. Neben ihnen warf Strigaljow einige Münzen auf das Tischchen und entfernte sich in ungelenker Hast. Kuider legte den Zylinder auf den Tisch, warf den Cutaway über die Lehne des zur Garderobe umfunktionierten Stuhles. Seine Bewegungen wirkten jugendlich, aber Bahlow konnte Kuiders tatsächliches Alter nicht schätzen, braune Flecken, Pergamenthaut, Falten und Furchen bildeten Spinnennetze und Flussdeltas, Augen, strenge Augen, eine gebieterische Stimme fragte: «Sie sind gut angekommen?»

      «Ja. Gut. Gestern Nachmittag.» Mit gelindem Erstaunen musterte Bahlow Kuiders Halskette, an der ein kreisförmiges daumennagelgroßes Amulett aus rauchigem Silber baumelte: Ein Andreaskreuz schmiegte sich in einen Ring. Bahlows umherwandernde Tasse hatte auf der Tischplatte ebenfalls einen Ring hinterlassen, wässrig braun, gedankenverloren malte Bahlow mit dem Finger ein Kreuz in den Kaffeekreis, sieht wie das Amulett aus, lästig, wie Kuider seinen Blick zu fangen suchte, um ihn schließlich zu packen und festzuhalten. «Wie war die Reise, Doktor Bahlow?»

      «Gut», antwortete dieser und fügte, um nicht unhöflich zu erscheinen, hinzu: «Etwas anstrengend.»

      Kuider rieb die Hände gegeneinander. «Sie scheinen nicht zum Plaudern aufgelegt zu sein. Lassen wir uns also directement zum, sagen wir, offiziellen Teil des Treffens übergehen. Die Angelegenheit ist nicht ungefährlich. Unser erster Mann …» Der Kellner trat an den Tisch, und Kuider bedeutete ihm mit einer grausam beiläufigen Geste, nicht gestört werden zu wollen. «Wie unpassend! Wo war ich stehen geblieben?» Der Kellner zog sich ins schattige Innere des Cafés zurück.

      «Sie sagten, es sei nicht ungefährlich», bemerkte Bahlow.

      «In der Tat. Valdsky, unser erster Mann, ein Missionar, meldet sich seit vier Monaten nicht mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass er noch am Leben ist, aber halten Sie die Augen offen. Ein Bild von Valdsky wurde Ihrem Dossier beigefügt.»

      «Meinem Dossier?»

      «Keine Sorge. Ich werde es Ihnen gleich aushändigen.»

      «Was habe ich zu tun?»

      Kuider lachte tonlos. «Sie sammeln Insekten für die Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas.»

      «Nein, ich meine, was soll ich wirklich tun?»

      «Insekten sammeln.» Wieder lachte Kuider. «Dafür werden Sie von der Firma bezahlt. Und weil Sie diesen Auftrag von uns bekommen haben und nicht von der Firma, bitten wir Sie, außerdem die Augen offen zu halten. Das ist, hoffe ich, nicht zu viel verlangt.»

      «Und wenn ich nein sage?»

      «Das werden Sie nicht wagen! Sie wissen das, und wir wissen das. Sie haben doch sicherlich geahnt, dass uns Ihre Vorliebe für das weibliche Geschlecht nicht verborgen geblieben ist – ansonsten hätten Sie unser Angebot wahrscheinlich ausgeschlagen. Oder sollte ich eher sagen …»

      «Was habe ich zu tun?», fragte Bahlow kalt.

      «Sie haben zu beobachten. Sie haben zu berichten.»

      «Weiter nichts.»

      «Das reicht uns vorerst.»

      «Vorerst?»

      «Ich darf Ihnen hier und heute nicht mehr verraten. Nur so viel: Wir halten es für überaus wichtig, dass Sie unvoreingenommen sind.»

      «Unvoreingenommen?»

      «Ja.» Hiermit schien das Thema für Kuider erschöpft zu sein. Er wandte sich ab, rief in perfektem Französisch nach dem Kellner. «Nehmen Sie auch einen Absinth, Doktor Bahlow?»

      Dieser nickte zögerlich; Kuider bestellte zwei Absinth.

      «Sie dürfen mir wirklich nicht mehr verraten?»

      «Nein.» In amüsiertem Bedauern hob Kuider die Hände. «Ich weiß nicht, ob Sie das entschädigen wird, aber ich habe den Auftrag, Sie mit den Hintergründen der Expedition vertraut zu machen, der Sie sich in Kürze anzuschließen gedenken.» In der Nähe des Tendaguru-Berges, etwa drei bis fünf Tagesreisen von der Küste entfernt, war ein Ingenieur der Lindi-Schürfgesellschaft namens Sattler über einen gigantischen Knochen gestolpert, der quer über dem Pfad lag, der sich von