Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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er es noch immer nicht fassen, den Himmelskörper mit eigenen Augen erblickt zu haben. «Am 19. Mai nahm er fast zwei Drittel des Himmels ein. Wie ein gigantischer Scheinwerfer! Sein Schweif erstreckte sich über unseren Zenit. Das Gouvernement hat durch seine Bezirksämter, Akidate und Jumbenschaften die eingeborene Bevölkerung gewarnt, dass keine Hungersnöte oder ähnliches damit verbunden seien, aber dennoch …» Der Boden schlingerte, schwankte. Bisweilen warf Bahlow einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihnen die Boys tatsächlich mit dem Gepäck folgten und sich damit nicht ins dichte Gebüsch am Straßenrand schlugen. Strandkasuarinen und Palmen überschatteten die breiten Straßen Lindis, gelegentlich erhellte das weiße Leuchten eines Hauses im Kolonialbaustil das satte Grün wie ein jäher Magnesiumblitz. Bilderbeck sei Ägyptologe, hieß es in Kuiders Dossier erstaunlich kurz angebunden, habe ab 1903 am Wörterbuch der ägyptischen Sprache mitgearbeitet, 1905 Examen Rigorosum, 1906 Dissertation, ab 1909 Außenagent der Firma Staudinger & Bang-Haas in Lindi. Es verwunderte Bahlow kaum, dass die Insektenhandlung einen Ägyptologen für sich arbeiten ließ. Vermutlich entzifferte er die Hieroglyphen auf Schmetterlingsflügeln. Bahlow wollte die spaßhafte Bemerkung gerade anbringen, denn Bilderbecks unglaubwürdiger Bericht über den Halleyschen Kometen hatte sich längst in der schwarzen Unendlichkeit des Weltenraumes verflüchtigt, und sie gingen schweigend nebeneinander einher, doch da deutete der Ägyptologe mit dem Sjambok auf ein Gebäude, das wie die Kreuzung zwischen einer Festung und einem maurischen Palast aussah. «Das Bezirksamt. Ich bedauere, Ihnen nicht mehr von Lindi zeigen zu können, aber wir sollten so wenig Zeit wie möglich auf den Straßen verbringen. Gerüchten zufolge, ach! Ich möchte Sie nicht beunruhigen.»

      «Sie tun es aber justament.»

      «Also gut. Es sind einige Fälle von Pest aufgetreten.»

      «Pest?», lachte Bahlow ungläubig.

      «Jaja», sagte Bilderbeck mit einem schiefen Lächeln. «Aber sie schlachten die Ratten ab. Schlagen sie mit Knüppeln und Holzschuhen tot. Sie kriegen das natürlich in den Griff. Erst drei Tote, und wir haben die drei bereits isoliert, als deren Fieber stieg. Im Inderviertel natürlich.»

      «Und Sie meinen …?»

      «Ungefährlich. Kein Grund zur Besorgnis!»

      «Die Pest», murmelte Bahlow. «Die Pest in Lindi!»

      Eigentlich zum Piepen, in welch krudes pseudoafrikanisches Geschehen man ihn hier versetzt hatte. Die Pest! Lächerlich! Pestkranke in Lindi! Ein Komet! Was für ein gewaltiger Mummenschanz! Und das ausgerechnet dann, wenn er ankam. Beiläufig schob man ihm diese Informationen zu. Ganz unauffällig, versteht sich. Schwarze Boys trugen das Gepäck. Selbstverständlich Palmen. Wessen Text war seine Welt geworden?

      Das Schwanken der Sandstraße, das sich selbst bei dem mehrminütigen Fußmarsch nicht legte, brachte Bahlow auf bodenständigere Gedanken. In Kiel, erinnerte er sich, hatte er als Kind oft über die Matrosen auf Landgang gestaunt. Mit kraftvoll breitbeinigem Staksen waren sie vom Hafen gekommen. Er hatte damals vermutet, sie hätten sich diesen Gang angewöhnt, um auf einem schwankenden Schiffsdeck das Gleichgewicht wahren zu können. Aber nun begriff er, dass man so und nicht anders gehen musste, um nicht auf einem widerspenstigen Erdboden zu stürzen. Selbst die Dielen in Bilderbecks prachtvollem Haus bewegten sich unter den Sohlen!

      Nachdem die Boys mit dem Gepäck im Obergeschoss verschwunden waren, fragte Bahlow, der nicht beabsichtigte, weiterhin als Komparse mitzuspielen, den man nur blöde anzugrinsen brauchte: «Ich erbitte mir nun eine präzise und umfassende Auskunft. Was habe ich hier zu tun?»

      «Wie meinen Sie das?»

      «Man hat mir gesagt, ich würde weitere Instruktionen …»

      «Ach, so», unterbrach Bilderbeck hastig. «Darüber reden wir später. Sie wollen sich doch vorher sicherlich frisch machen. Nach der ermüdenden Reise und dem Fußmarsch …»

      «Nein, eigentlich nicht. Könnten Sie mir nicht jetzt sofort …»

      «Nun gut, aber dann lassen Sie uns wenigstens dabei einen geeisten Tee auf der Veranda nehmen.» Bilderbeck ging voraus, drehte sich plötzlich um: «Sie haben doch nichts gegen geeisten Tee?»

      «Nein», beeilte sich Bahlow zu bemerken. «Natürlich nicht. Wieso sollte ich?»

      Ein weiß livrierter Boy brachte einen Krug Eistee und stellte zwei hohe Gläser auf den runden Tisch zwischen den Korbsesseln. Bahlow wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Boden unter dem Sessel stampfte und rollte, als befände sich unter Lindi ein riesiger Maschinenraum, dessen Turbinen in betäubender Synchronizität zu allen Gedanken standen. Bahlow stieg einigen dieser dröhnenden Gedanken nach, und bald nahmen sie die Gestalt davonhuschender Schemen an und lockten ihn in staubige, selten begangene Korridore. Türen zu fast vergessenen Erinnerungen schwangen auf. In einem Raum erwartete ihn die mit Kork ausgeschlagene Schachtel seiner ersten Käfersammlung. Eine knarrende Stiege führte von dort hinauf zu einer Wiese, auf der sich ein verstörter Knabe über eine Sandwespe beugte, deren Stachel sich in den Leib einer Raupe gesenkt hatte. Die wehrlose Raupe wand und verdrehte sich, aber die gebogenen Kieferzangen der Ammophila sabulosa hielten sie unbarmherzig im Nacken gepackt. «Macht Ihnen das Klima zu schaffen?»

      «Es ist ungewohnt», sagte Bahlow. Der wollüstige Todeskampf der Raupe verschwamm, und er bemühte sich, seiner Stimme einen weltmännischen Klang zu geben. «Vor allem ungewohnt, weil die Luft so …» Verzweifelt suchte er nach dem mot juste. Rechts befanden sich Worte wie «warm» und «heiß», linker Hand wurde es «feucht» und «drückend», die Sandwespe zerrte die gelähmte Raupe zu ihrer Bruthöhle. Mit jedem Schritt kam Bahlow weiter von dem Pfad ab, an dessen Ende das gesuchte Wort erstrahlte wie der Name Gottes, das gesuchte Wort, das, soweit er erkennen konnte, mit einem dampfenden «sch» begann, geräuschlos schwangen weitere Türen auf, er sah ein lachendes Mädchen auf einer Schaukel, machte erschrocken kehrt und erreichte über Leitern und Wendeltreppen das Hauptgebäude. Derweil trank sein regloser Körper einen Schluck Tee und labte sich am leichten Wind, der vom Meer herüberwehte. Aus der Ferne erklang die Schiffsglocke; der Dampfer würde bald ablegen. Wie viele Tagesreisen waren es zum Tendaguru? Drei bis fünf? Hatte er das richtig behalten? Drei bis fünf Tage im Dschungel? Er dachte über das Wort «Urwald» nach, über unwegsames Gestrüpp, über Knochen, die aus der Erde ragten. Auf einmal erschienen ihm die vereinzelten Palmen, die sich auf der sandigen Grasfläche vor der Veranda erhoben, wie Späher einer feindlichen Macht. Je weiter sie vom Haus entfernt standen, desto enger rückten sie zusammen, bis die Schatten zwischen ihren Stämmen zu einem undurchdringlich grünen Dunkel wurden.

      «Schwül?»

      «Wie bitte?»

      «Sie sprachen von der Luft.»

      «Ja, schwül. Das ist das Wort, das ich gesucht habe.»

      «Im Landesinneren ist es trotz der Meeresferne wesentlich angenehmer.»

      «Freut mich zu hören. Darf ich?»

      «Nur zu! Bedienen Sie sich!»

      Bahlow schenkte sich Eistee nach. Schwül. Natürlich war die Luft schwül. Wieso entglitten ihm die Worte? Nahm seine Verwirrung etwa in dem Maße zu, in dem er seine Umgebung als wirklich anerkannte? Aber an diesem strahlenden, tiefblauen Himmel, der sich über Lindi wölbte wie eine umgedrehte Schüssel aus japanischem Porzellan, konnte man doch nicht zweifeln! Und hier, hier war seine Hand, unauffällig glitt sie über seine Brust, und hier, in seiner Brust, schlug sein Herz! Mit geheucheltem Interesse hörte er Bilderbeck zu, der anekdotenähnliche Begebenheiten aus dem Lindier Leben zum Besten gab. Sonnenbrände auf Glatzen, defekte Eismaschinen und bunte Abende im Bezirksamt. «Es gibt Lieder», behauptete Bilderbeck unvermittelt, «die begleiten einen, wohin man geht. Auch wenn man sie nur ein einziges Mal in seinem Leben gehört hat. Kennen Sie die Suleikalieder?» Bahlow gestand, sie nicht zu kennen. «Es gibt die Suleikalieder von Mendelssohn und die von Schubert. Die Mendelssohn-Vertonungen gefallen mir, ehrlich gesagt, besser. Darin muss der Sopran nicht so trällern.» Bilderbeck lachte laut auf. «Der Insekten frohes Völkchen! So heißt es im ersten Suleikalied! Der Insekten frohes Völkchen!» Bahlow lächelte vorsichtig. «Ah, Musik!», schwärmte Bilderbeck. «Musik!