Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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Kraftdreikämpfer). Er hieb mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, trat das Gaspedal durch, ließ gleichzeitig den ersten Gang kommen. Reifen schleuderten Schotter auf, der Transit rumpelte über den Bürgersteig, legte sich quietschend in eine Rechtskurve: Wir waren unterwegs. Heinz hielt mir seine Zigaretten hin. Bei dieser Geste handelte es sich um einen in Ehren ergrauten Scherz. Ich hatte nur ein einziges Mal von seinen Filterlosen geraucht, und Heinz freute sich noch heute über meinen Hustenanfall. Ich tat so, als dächte ich über das Angebot nach (auch das gehörte zum Ritual) und lehnte dankend ab. «Na, nimm dir schon eine», drängte er.

      «Für mich ist es noch zu früh zum Rauchen.»

      «Ach, Quatsch!» Heinz hielt die rotglühenden Drahtkreise des Zigarettenanzünders an die Spitze der Gauloises. «Zum Rauchen isses nie zu früh!» Aschezähne fraßen sich ins weiße Papier, Heinz inhalierte, behielt den Rauch lange in der Lunge und ließ ihn mit einem wohligen Seufzen aus den haarigen Nasenlöchern strömen. «Du weißt gar nicht, was dir entgeht, Kleiner!» Maulfaul zuckte der Kleine mit den Achseln, Heinz schaltete das Radio an, fluchte unflätig, schaltete es wieder aus, langweilte sich demonstrativ und bedachte mich mit vorwurfsvollen Seitenblicken.

      Aber ich war weder wach noch gesprächsbereit.

      «Halt mal kurz an der Bäckerei.»

      «Yup!» Heinz warf einen Blick in den Rückspiegel, trat auf die Bremse. «Na, da glotzt ihr blöd, ihr Mistböcke!» Der Transit kam mit tickender Warnblinkanlage mitten auf der Straße zum Stehen. «Is nich mein Bier, wenn irgendwelche Scheißkerle das Trottoir zuparken!» Heinz zog die Handbremse; den Motor ließ er weiterlaufen. Zwei ältere Damen unterbrachen ihr Schwätzchen und spähten zu dem lauernden Leichenwagen hinüber.

      «Willst du auch was?», fragte ich.

      «Nö», sagte Heinz. «Bin fett genug.»

      «Wie du meinst.» Ich schlug die Wagentür zu, schlüpfte zwischen Stoßstangen durch, und endlich setzte der Kopf der Autoschlange, die sich hinter dem Transit gebildet hatte, zu einem halbherzigen Überholmanöver an. Niemand bedachte uns mit obszönen Gesten, niemand hupte, keiner lamentierte – am Steuer eines Leichenwagens darf man sich alles erlauben. Bürgersteig, Stufe eins, bereits auf der Treppe der Bäckerei Gallinger, Stufe zwei, begannen rosinengespickte, mandelbestäubte Monde mein Denken zu umkreisen. Ich nehme, Stufe drei, eine Schnecke, Ting, ein Schweinsohr, ein … ich starrte die neue Verkäuferin an.

      «Eine Schnecke», stammelte ich, «ein Schweinsohr, ein …»

      «Ja?»

      «Zwei Schnecken, ein Puddingstückchen …»

      Sie half mir: «Und ein Schweinsohr?»

      Dankbares Nicken, schöne Brüste, die Kuchenzange griff viermal zu, das Mädchen hatte einen schlanken, sportlichen Körper, nascht bestimmt nie vom Teig, dachte ich verzaubert von der Anmut, mit der sie die Kaffeestückchen in die Papiertüte packte, höchstens achtzehn, schätzte ich, sie hatte die kräftigen, sonnengebräunten Unterarme einer Tennisspielerin. Wie zufällig berührten meine Fingerspitzen beim Zahlen ihre Handfläche, ein verwegenes Geldstück sprang auf die Glastheke, schwebte über den Kuchen, den Zöpfen und rollte davon, als ich danach griff. Verwirrt steckte ich mein ganzes Wechselgeld in eine verplombte Sammelbüchse. «Die armen Kinder», bemerkte ich. «Wenn man dieses Elend sieht», ich tippte an die Büchse, «weiß man erst, wie gut es einem selbst geht.» Die Verkäuferin sah mich befremdet an, und da ich keinen blassen Schimmer hatte, über was ich mit ihr reden sollte, verbreitete ich einige Dummheiten über das Wetter, und als meine Fähigkeiten, charmant über die Wetterlage zu dozieren, erschöpft waren, bezog ich die Kleine kurzerhand ein. «Sie freuen sich wahrscheinlich nicht annähernd so über gutes Wetter wie ich.»

      Hinter ihr konnte ich in die Backstube sehen: Der Propeller eines Knetarms über der Metallwanne der Knetmaschine; Siebe und Brotschieber an der gekachelten Wand; ein weiß gekleideter Jemand, der nicht gerade aussah, als hätte er das Rad erfunden, machte die Tür von innen zu. Die Verkäuferin schluckte schwer. «Wieso kann ich mich nicht über gutes Wetter freuen?»

      «Mmh», sagte ich im verzweifelten Bemühen, Zeit zu gewinnen. «Sie sind doch den ganzen Tag hier drinnen.» Damit wollte ich es bewenden lassen, aber weil sie mich immer noch verständnislos ansah, musste ich weiter ausholen. «Ich bin den ganzen Tag unterwegs. Verstehen Sie? Zwar mit dem Auto, aber man ist unterwegs. Man, das heißt in diesem Fall: ich. Ich bin also unterwegs, den», bloß nicht «lieben, langen» sagen, «ganzen Tag bin ich unterwegs. Im Freien.» Ich lachte herzlich, bis mir klar wurde, dass ich viel zu lange und viel zu laut lachte. Und worüber lachte ich überhaupt? Damit mir das ohnehin dünne rote Fädchen meiner Rede nicht endgültig zwischen den Fingern davonglitt, begann ich den nächsten Satz mit einem altklugen «Unterwegs zu sein …», doch diese drei Worte hatten es in sich: Sie mündeten geradewegs ins Leere. Unterwegs zu sein, ja was denn, was denn, hilfsbedürftig starrte ich ins Brotregal, unterwegs zu sein ist supergut? toll? fabelhaft? unterwegs auf jeden Fall? ist prima? allererste Sahne? in Biskin gebadet? glänzend? angenehm? gute Titten? unterwegs zu sein, bringt Segen? Ting!, rief die Ladenglocke, ich fuhr herum, kleiner Junge, Sommersprossen, für fünfzig Pfennig Colafläschchen. «Die hab ich früher auch gern gegessen», fand ich meine Sprache wieder, lächelte der Schönen zu, griff die Tüte, ging zur Tür, immer unterwegs, wünschte allen einen schönen Tag, Titten, blieb stehen, voll ins Maul, drehte mich um, denn das Wort «Wegschnecke» hatte sich in meinem Denken quergestellt, wieso Wegschnecke, wunderbare grüne Augen, wunderbare skeptisch dreinblickende grüne Augen, scheiße, warum bleibe ich gerade stehen, ungewöhnlich skeptisch dreinblickende grüne Augen, Wegschnecke, ich wünschte dem Jungen mit verschmitzter Stimme einen guten Appetit. Ting! Treppe runter. Autotür auf. Rein. Autotür zu. Wieso, zum Teufel, Wegschnecke?

      «Mann, das hat ja ne halbe Ewigkeit gedauert!»

      Ich legte die Tüte auf die Ablage vor mir und schnallte mich an.

      «Sie haben ne neue Verkäuferin», sagte ich.

      «Und?» Heinz scherte so abrupt aus, dass die Tüte auf den Wagenboden fiel. «Was ist mit der?»

      Ich bückte mich nach den Kaffeestückchen, damit Heinz meinen Gesichtsausdruck nicht bemerkte, denn eine gewaltige Detonation hatte soeben mein Hirn in einen Bombentrichter enormen Umfangs verwandelt, aus dessen qualmendem Krater die Erkenntnis kletterte (wir müssen sie uns als abgerissene, ein weißes Fähnchen schwenkende Gestalt vorstellen), dass ich mich nicht gerade wie Don Juan benommen hatte. Wegschnecke, dachte ich. Schnecken aus der Bäckerei, dachte ich. Schnecken unterwegs, dachte ich. Wenn es darauf ankam, konnte auch ich witzig und charmant sein, aber nicht heute, nicht heute Morgen. Nur gut, dass ich in der schwarzen Jeans und dem Rollkragenpullover nicht wie der typische Angestellte eines Beerdigungsinstituts aussah.

      «Würdst sie wohl gern mal flachlegen», sagte Heinz.

      Ich reichte ihm kommentarlos das Puddingstückchen. Obwohl er nie etwas mitgebracht haben wollte, kaufte ich ihm immer ein Puddingstückchen, und er freute sich jedes Mal drüber wie ein Schneekönig. «Blinker setzen, du Arschloch!» Heinz überholte rechts, die Ampel sprang auf rot, «War orange!», Gas, Hupe, «Mösenalarm!» Er wich der strampelnden Radfahrerin aus und jagte Rivers of Babylon summend den Transit hoch in den vierten Gang, ohne dass das Getriebe ein einziges Mal mit den Zähnen knirschte. Dass Heinz so souverän Auto fuhr, lag eindeutig an seinem engen Verhältnis zu dem Wagen. Dieser Satz gefällt mir nicht. Klingt irgendwie bemüht. Stimmt. Ich bemühe mich. Das darf man ruhig merken. Ich habe keine Geheimnisse mehr. Wer Geheimnisse hat, muss auf seinen Stil achten. Doch mir geht es um mehr. Sprang der Transit nicht an (was im Winter häufig vorkam), redete Heinz ihm gut zu, und jeden Abend, nachdem er ihn in oder vor der Garage geparkt hatte, tätschelte er ihm zum Abschied die schwarz lackierte Flanke, um kurz darauf die Vespa mit einem Klaps auf den Hintern zu begrüßen. «Die fahrn heute wie die allerletzten Schweine!» Heinz leckte ein Puddingklümpchen vom Handrücken und steckte sich eine Zigarette an. Mittlerweile hatten wir die Vorstadt verlassen. Die Gebäude wurden ansehnlicher, Busse und Taxis tauchten auf, die riesigen Schilder von Einkaufsmärkten, Jugendliche mit verkehrtherum aufgesetzten Baseballkappen, Skateboards, Walkmans, Zeugen Jehovas, gut gekleidete