Abb. 4-3 Wenn zwei oder mehr Phasen im Gleichgewicht stehen, ist das chemische Potenzial einer Substanz (bzw. in einer Mischung einer Komponente) in allen Phasen und an jedem Ort in jeder Phase gleich.
Thermodynamische Kriterien für die Stabilität von Phasen
Die Grundlage unserer Diskussion bildet die Freie Enthalpie einer Substanz – genauer gesagt die molare Freie Enthalpie Gm, die sich im Laufe dieses und der folgenden Kapitel als so wichtig erweisen wird, dass wir ihr einen besonderen Namen geben: das chemische Potenzial μ. Für reine Stoffe ist μ = Gm, d. h. „molare Freie Enthalpie“ und „chemisches Potenzial“ sind Synonyme. In Kapitel 5 werden wir jedoch eine allgemeinere Definition von μ kennen lernen und die weiter reichende Bedeutung dieser Größe besprechen. Die Bezeichnung „chemisches Potenzial“ lässt uns bereits erahnen, dass μ als Maß für die Möglichkeit einer Zustandsänderung der betreffenden Substanz in einem System gelten kann. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns dabei zunächst auf das Potenzial eines Stoffs, seinen physikalischen Zustand zu ändern. Die Rolle von μ bei chemischen Umwandlungen wird uns in Kapitel 6 beschäftigen.
Unser Ausgangspunkt in dieser Diskussion ist eine Schlussfolgerung aus dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Abb. 4-3):
Im Gleichgewicht ist das chemische Potenzial eines Stoffs überall in der Probe gleich groß, unabhängig davon, wie viele Phasen koexistieren.
Um uns von der Richtigkeit dieser Aussage zu überzeugen, betrachten wir ein System, bei dem das chemische Potenzial an einem Ort μ1 und an einem anderen Ort μ2 beträgt; beide Positionen können in der gleichen oder in zwei verschiedenen Phasen liegen. Wird nun eine Stoffmenge dn vom ersten zum zweiten Ort transportiert, verringert sich die Freie Enthalpie des System um μ1 dn (wenn die Stoffmenge von Ort 1 entnommen wird) und nimmt um μ2 dn zu (wenn der Stoff an Ort 2 wieder zugeführt wird). Die Gesamtänderung der Freien Enthalpie ist damit dG = (μ2 – μ1)dn. Wenn nun das chemische Potenzial am Ort 1 höher ist als an Ort 2, so nimmt G während des Gesamtprozesses ab; der Prozess verliefe also freiwillig. Ein Gleichgewicht liegt nur vor, wenn sich G bei einem derartigen Prozess nicht ändert, wenn also μ1 = μ2 ist.
4.1.2 Phasengrenzen
■ Das Wichtigste in Kürze: (a) Eine Substanz wird durch eine Reihe von physikalischen Parametern charakterisiert, die in ihrem Phasendiagramm angegeben sind. (b) Die Phasenregel stellt eine Verbindung zwischen der Zahl der Variablen her, die verändert werden können, ohne dass sich die Zahl oder die Art der Phasen im Gleichgewicht verändern.
Abb. 4-4 Eine allgemeine Darstellung der Gebiete, in denen gasförmige, flüssige und feste Phase am stabilsten sind (d. h., das niedrigste chemische Potenzial aufweisen). Die feste Phase ist beispielsweise bei niedriger Temperatur und hohem Druck stabil. In den folgenden Abschnitten werden wir die Lage der Phasengrenzlinien genauer bestimmen.
Das Phasendiagramm eines Stoffs ist eine grafische Darstellung der Druck- und Temperaturbereiche, in denen die einzelnen Phasen thermodynamisch stabil sind (Abb. 4-4). Streng genommen können zwei beliebige intensive Variablen verwendet werden (z. B. Temperatur und Magnetfeld, in Kapitel 5 werden wir den Molenbruch als weitere Variante kennen lernen), aber im vorliegenden Kapitel konzentrieren wir uns auf Druck und Temperatur. Die Bereiche werden durch Phasengrenzlinien (oder Koexistenzkurven) voneinander getrennt; diese repräsentieren Wertepaare (p, T), bei denen zwei Phasen miteinander im Gleichgewicht stehen und ihre chemischen Potenziale gleich sind.
Charakteristische Eigenschaften von Phasenübergängen
Betrachten wir eine reine Flüssigkeit in einem geschlossenen Behälter mit konstantem Volumen. Der Druck der Gasphase, die sich mit der kondensierten Phase im Gleichgewicht befindet, ist der Dampfdruck dieses Stoffs (Abb. 4-5). Die Phasengrenzlinien des Gleichgewichts Flüssigkeit/Gas gibt also die Abhängigkeit des Dampfdrucks der Flüssigkeit von der Temperatur an. Analog lässt sich an der Phasengrenzlinie Feststoff/Gas die Abhängigkeit des Sublimationsdrucks von der Temperatur ablesen. Der Dampfdruck nimmt mit steigender Temperatur zu, da dann immer mehr Moleküle genügend Energie besitzen, um die zwischenmolekularen Anziehungskräfte zu ihren Nachbarn zu überwinden.
Wenn eine Flüssigkeit in einem offenen Gefäß erhitzt wird, verdampft die Flüssigkeit zunächst an der Oberfläche. Wenn der Dampfdruck gleich dem äußeren Druck ist, kann im gesamten Volumen der Flüssigkeit Verdampfung eintreten und der Dampf kann frei in die Umgebung entweichen. Diesen Vorgang nennt man Sieden und die Temperatur, bei der der Dampfdruck der Flüssigkeit gleich dem äußeren Druck ist, ist die Siedetemperatur bei gegebenem Druck. Für den Spezialfall eines äußeren Drucks von 1 bar spricht man vom Standardsiedepunkt TS; für Wasser liegt er bei 99.6 °C. (Unter Atmosphärendruck, p = 1 atm, liegt der so genannte Normalsiedepunkt von Wasser bei 100 °C.)
Abb. 4-5 Als Dampfdruck einer Flüssigkeit oder eines Feststoffs bezeichnet man den Druck, den die gasförmige Phase ausübt, wenn sie sich im Gleichgewicht mit der jeweiligen kondensierten Phase befindet.
Wird die Flüssigkeit in einem geschlossenen Gefäß erhitzt, siedet die Flüssigkeit nicht. Stattdessen nehmen der Dampfdruck und die Dichte des Dampfs mit steigender Temperatur kontinuierlich zu (Abb. 4-6). Gleichzeitig dehnt sich die Flüssigkeit aus, wodurch ihre Dichte geringfügig abnimmt. Bei einer bestimmten Temperatur ist die Dichte des Dampfs gleich der Dichte der flüssigen Phase und die Phasengrenzfläche verschwindet. Diese Temperatur nennt man kritische Temperatur Tkrit (wir sind ihr in Abschnitt 1.2.1 bereits begegnet). Der entsprechende Dampfdruck ist der kritische Druck pkrit. Bei und oberhalb dieser Temperatur wird das Gefäß von einer einzigen, homogenen Phase ausgefüllt, dem überkritischen Fluid;es existieren keine Grenzflächen mehr. Oberhalb seiner kritischen Temperatur