Verdampfen, Schmelzen oder die Umwandlung von Graphit in Diamant – all dies sind Beispiele für Phasenübergänge, die ohne Änderung der chemischen Zusammensetzung des Systems verlaufen. In diesem Kapitel beschreiben wir solche Prozesse aus thermodynamischer Sicht; wir lassen uns dabei von der Erkenntnis leiten, dass freiwillige Zustandsänderungen bei konstanter Temperatur und konstantem Druck immer in Richtung kleinerer Freier Enthalpie des Systems verlaufen.
4.1 Phasendiagramme
Die physikalischen Zustandsänderungen einer Substanz lassen sich besonders knapp und übersichtlich in einem Phasendiagramm darstellen. Die folgenden Erläuterungen sind die Grundlage der Diskussion von Mischungen in Kapitel 5.
4.1.1 Die Stabilität von Phasen
■ Das Wichtigste in Kürze: (a) Eine Phase ist eine Probe einer Substanz mit durchgehend homogener Zusammensetzung und gleichförmigem physikalischen Zustand. (b) Ein Phasenübergang ist die spontane Umwandlung einer Phase in eine andere; Phasenübergänge können unter anderem durch thermische Analyse untersucht werden. (c) Die thermodynamische Analyse von Phasen beruht auf dem Grundsatz, dass das chemische Potenzial einer Substanz in allen Phasen einer Probe gleich ist.
Die Thermodynamik gibt uns sehr mächtige Begriffe an die Hand, um die Stabilitäten von Phasen und ihre Umwandlungen zu beschreiben und zu verstehen, aber um sie sinnvoll einsetzen zu können, müssen wir die Begriffe zuerst sorgfältig definieren.
Die Zahl der Phasen
Materie mit homogener chemischer Zusammensetzung und räumlich konstantem physikalischem Zustand nennt man eine Phase des betreffenden Stoffs. Es gibt feste (Symbol „s“), flüssige (Symbol „l“) und gasförmige Phasen (Symbol „g“); für einen Stoff können auch verschiedene feste Phasen existieren, etwa das weiße und das schwarze Allotrop von Phosphor oder die Polymorphe Calcit und Aragnonit bei Calciumcarbonat.
Hinweis
Allotrope sind unterschiedliche Modifikationen eines Elements (z. B. O2 und O3 oder Diamant und Graphit); bei Verbindungen, die in unterschiedlichen Formen vorkommen, spricht man entsprechend von Polymorphen.
Die Anzahl der Phasen in einem System bezeichnen wir mit P. Ein Gas oder eine Gasmischung besteht aus einer einzigen Phase (P = 1), auch ein Kristall oder zwei vollständig mischbare Flüssigkeiten oder eine Lösung von z. B. Natriumchlorid in Wasser bilden eine Phase. Eis ist eine Phase (P = 1), auch wenn es in kleine Splitter zerteilt ist. Schneematsch allerdings ist ein Gemisch aus fein verteilten Eisstückchen und Wasser; dieses System besteht aus zwei Phasen (P = 2), auch wenn man die Phasengrenzfläche nicht auf den ersten Blick erkennt. Calciumcarbonat kann sich entsprechend
thermisch zersetzen; ein System, in dem dieser Vorgang abläuft, besteht aus zwei festen (Calciumcarbonat und Calciumoxid) und einer gasförmigen Phase (Kohlendioxid).
Abb. 4-1 Die Unterscheidung zwischen (a) einer einphasigen Lösung, deren Zusammensetzung auch auf mikroskopischer Ebene homogen ist, und (b) einer Dispersion, bei der Teilchen einer Phase in eine Matrix der anderen Phase eingebettet sind.
Eine Legierung zweier Metalle ist ein Zweiphasensystem (P = 2), wenn sich die Metalle nicht miteinander mischen; sind sie jedoch vollständig mischbar, liegt nur eine Phase (P = 1) vor. Dieses Beispiel zeigt, dass die Entscheidung, aus wie vielen Phasen ein System besteht, nicht immer ganz einfach zu treffen ist. Eine Lösung (eine homogene Mischung) zweier fester Stoffe A und B ist auch auf mikroskopischer Ebene räumlich homogen: Atome von A sind jeweils von Atomen A und B umgeben, und jede noch so kleine entnommene Menge spiegelt genau die Zusammensetzung der gesamten Probe wider.
Eine Dispersion ist, makroskopisch gesehen, ebenfalls ein homogenes System; sieht man auf mikroskopischer Ebene jedoch genauer hin, stellt man fest, dass in Wirklichkeit Körnchen oder Tropfen der einen Substanz eingebettet in eine Matrix der anderen Substanz vorliegen. Wenn man nun eine sehr kleine Probe entnimmt, kann diese zufällig nur kleine Tröpfchen von A enthalten; die Zusammensetzung des Gesamtsystems wird nicht korrekt wiedergegeben (Abb. 4-1). Solche Dispersionen spielen eine wichtige Rolle, da bei vielen modernen Werkstoffen (z. B. Stählen) durch eine genau definierte thermische Behandlung die Ausfällung einer fein verteilten Phase (wie der Carbidphase) in der Matrix der gesättigten festen Mischung erreicht wird. Auf diese Weise ist es durch Kenntnis der Phasengleichgewichte möglich, eine genau auf die Anwendung und die dabei geforderten mechanischen Eigenschaften des Stoffs zugeschnittene Mikrostruktur zu erhalten.
Abb. 4-2 Eine Abkühlungskurve bei konstantem Druck. Das Plateau entspricht der Zeit, während der das System sich nicht weiter abkühlt, weil ein exothermer Phasenübergang erster Ordnung (Erstarren) stattfindet. Anhand dieses Plateaus kann man TSm identifizieren, auch wenn der Übergang visuell nicht beobachtbar ist.
Phasenübergänge
Ein Phasenübergang ist die spontane Umwandlung einer Phase in eine andere; er findet bei gegebenem Druck bei einer charakteristischen Temperatur statt. So ist bei 0.1 MPa (1bar) unterhalb von 0°C Eis die stabilste Phase von Wasser; oberhalb von 0 °C ist die Flüssigkeit der stabilere Zustand. Demzufolge muss oberhalb von 0 °C die Freie Enthalpie abnehmen, wenn Eis schmilzt, unterhalb von 0 °C muss sie hingegen abnehmen, wenn flüssiges Wasser gefriert. Am Punkt der Phasenübergangstemperatur TTrans befinden sich beide Phasen im Gleichgewicht und die Freie Enthalpie erreicht beim gegebenen Druck ein Minimum.
Die Erkennung eines Phasenübergangs ist nicht immer so einfach wie bei einem Topf mit kochendem Wasser; hierfür wurden spezielle Methoden entwickelt. Eine davon ist die thermische Analyse, die sich die bei jedem Phasenübergang aufgenommene oder abgegebene Wärme zunutze macht. Ein Phasenübergang verrät sich dann dadurch, dass die Temperatur einer Probe sich an einem bestimmten Punkt nicht verändert, obwohl der Probe Wärme zugeführt oder entnommen wird (Abb. 4-2). Auch die dynamische Differenzkalorimetrie (siehe Anwendung 2-1) wird zu diesem Zweck eingesetzt. Thermische Untersuchungsmethoden sind vor allem für fest/fest-Übergänge wichtig, bei denen man allein durch Beobachtung der Probe nicht viel erkennen kann. Auch die Röntgenbeugung (Abschnitt 19.1.3) kann häufig einen fest/fest-Übergang verraten, da die beiden Phasen unterschiedliche Strukturen besitzen.
Wie immer müssen wir auch bei der Diskussion von Phasenübergängen sorgfältig zwischen der Thermodynamik und der Kinetik (der Geschwindigkeit) von Prozessen unterscheiden: Ein Übergang, der thermodynamisch freiwillig verlaufen sollte, kann sehr langsam vonstatten gehen und daher keine praktische Bedeutung besitzen. So ist bei normaler Temperatur und normalem Druck die molare Freie Enthalpie von Graphit niedriger als die von Diamant – aus thermodynamischer Sicht würde man erwarten, dass sich Diamant spontan in Graphit umwandelt. Dazu müsste sich allerdings