Karl-Heinz Klosterbach lief mit seinen breiten O-Beinen von einem zum anderen und versuchte jeden Einzelnen gestenreich zu motivieren: „Komm Junge, wir haben die doch am Rande der Niederlage.“ „Wenn der letzte Pass in die Tiefe mal kommt, dann haben wir die im Sack.“ „Du musst dich nur was konzentrieren bei die Ballannahme, dann funktioniert das auch irgendswann.“ „Tonne, versuch doch einfach mal, die Bälle festzuhalten.“ „Spargel, das war ein wunderschönes gestrecktes Bein, was du da eben gezeigt hast. Warum seh ich das nicht öfters von dir?“
Und in der Tat, das Spiel befand sich auf des Messers Schneide, noch war alles möglich. Es stand immer noch 0 : 0 und das, obwohl es schon drei Elfmeter für Saffelen gegeben hatte. Der Pfiff des Schiedsrichters ertönte und widerwillig trotteten die Mannschaften zurück auf den Platz. Die ersten paar Minuten plätscherte die Partie dahin, als dem gegnerischen Rechtsverteidiger plötzlich und unerwartet ein langer Ball nach vorn gelang, der die gesamte Saffelener Abwehr überrumpelte. Der Krautdorfer Stürmer lief allein auf Tonne zu, der zitternd auf den Einschlag wartete. Borowka zog als letzter Mann einen Sprint an und heftete sich an die Fersen des Angreifers. Schlimme Seitenstiche hätten ihn nach ein paar Sekunden fast zur Aufgabe gezwungen, aber dank seines eisernen Willens hielt er durch und konnte den Angreifer gerade noch außerhalb des Sechzehnmeterraums mit einem rustikalen Bodycheck stellen. Der Krautdorfer schlug hart auf der Asche auf und wand sich brüllend auf dem Boden. Irgendetwas in seiner Schulter hatte geknackt. Sofort kam es zu einem Handgemenge zwischen den Spielern und auch vereinzelte Zuschauer ballten ihre Fäuste, aber der Schiedsrichter hatte die Situation schnell wieder unter Kontrolle. Umsichtig wie er war, zeigte er Borowka lediglich die gelbe Karte, obwohl aufgrund der Notbremse auch eine rote vertretbar gewesen wäre. Das erzürnte zwar die Krautdorfer, die nun einen Spieler weniger hatten, weil ihr Stürmer mit Verdacht auf Schlüsselbeinbruch benommen vom Platz geführt wurde, aber dafür erhielten sie einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Klosterbach beorderte mit hektisch rudernden Armen Fredi Jaspers nach hinten in die Mauer, obwohl dessen Aufgabe als Mittelstürmer normalerweise darin bestand, ganz vorn auf Bälle zu warten, die niemals kamen. Zu dritt stand er nun dort mit Borowka und Spargel und wartete mit den Händen vor dem Unterleib auf den Freistoß. Als der Krautdorfer Spieler Anlauf nahm, entdeckte Fredi eine Mücke auf seinem linken Unterarm, die er mit seiner Hand verscheuchen wollte, und so kam es, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände zu einem folgenschweren Unfall führte. Der mit Vollspann und voller Wucht getretene Ball landete direkt im ungeschützten Genitalbereich von Fredi Jaspers, der mit weit aufgerissenen Augen zu Boden ging. Die Schmerzen, die seinen Körper fluteten, waren kaum zu ertragen. Er schnappte verzweifelt nach Luft und wälzte sich stöhnend auf dem Boden hin und her. Borowka zögerte nicht lang und machte das, was ein guter Freund in einer solchen Situation macht. Er ging auf den Schützen zu und zertrümmerte ihm mit einem trockenen rechten Haken das Nasenbein.
Nun brachen alle Dämme im Stadion am Saffelbach. Die Zuschauer stürmten das Feld und es entwickelte sich eine wüste Schlägerei, die das Schiedsrichtergespann diesmal nur mit allergrößter Mühe wieder in den Griff bekam. Eine rote Karte und mehrere Stadionverweise später raufte Karl-Heinz Klosterbach sich das schüttere Haar ob der wieder einmal verpassten Chance auf einen historischen Sieg. Das Spiel wurde beendet, weil Saffelen nach der roten Karte und der schweren Verletzung von Fredi nur noch über sechs Spieler verfügte, was laut Reglement zum sofortigen Spielabbruch führt. Die Niederlage am grünen Tisch war damit besiegelt. Fredi Jaspers lag keuchend neben der Trainerbank und sprühte sich unentwegt Eisspray in die Hose.
„Wie geht es dir?“, fragte Borowka besorgt, als er dazukam. Er sah aus wie ein Krieger, der aus der Schlacht heimkehrt, denn sein Trikot war voller Blutflecken.
„Meine Fresse, tut das weh!“, keuchte Fredi, immer noch nach Atem ringend. „Meine Nüsse sind schon so dick wie Straußeneier und dunkelblau. Und das Scheiß-Eisspray ist alle.“
Borowka riskierte einen vorsichtigen Blick auf Fredis Gemächt und verzog angewidert das Gesicht. „Das sieht wirklich nicht gut aus. Komm, ich fahr dich mal besser im Krankenhaus.“
Fredi nickte.
Das Heinsberger Krankenhaus war gute 20 Kilometer entfernt. Während Borowka mit einem Affenzahn über die Landstraße raste, hatte Fredi sich den Beifahrersitz ganz heruntergedreht und presste beide Hände in der Hose fest auf seine Hoden. „Wenn uns jetzt einer anhält“, dachte Borowka und gab noch ein bisschen mehr Gas.
Das Ortsschild von Heinsberg war schon in Sichtweite, als Fredi fürchterlich aufstöhnte. Eine Bodenwelle hatte ihn voll erwischt und erneut blieb ihm die Luft weg. „Wie weit ist es noch? Ich halt es nicht mehr aus ohne Eis“, rief er.
Borowkas Augen irrlichterten wild herum und erspähten plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen schicken Landgasthof, den er bislang noch nie besucht hatte. Wozu auch, sie hatten ja schließlich in Saffelen den Grill-Container. Nun aber konnte das Restaurant ihre Rettung sein. Borowka stieg voll in die Eisen, der Wagen brach hinten aus und schleuderte quer über die Straße auf den Parkplatz des Gasthofs, wo er mit einer Vollbremsung direkt vor dem Eingang zum Stehen kam. Kies spritzte gegen die anderen Autos, die dort geparkt waren.
Borowka sprang aus dem Auto und rief Fredi zu: „Halt durch, ich hol dir was Eis.“ Dann spurtete er ins Restaurant und sah sich im Eingangsbereich hektisch um. Von innen sah das Lokal sogar noch besser aus als von außen. Die Einrichtung war stilvoll und modern. Aus den versteckten Lautsprechern an der Decke rieselte angenehme Klaviermusik und leises Gemurmel erfüllte den erstaunlich gut gefüllten, großen Raum, der durch seine verschachtelten Sitzecken und die dezente Dekoration ausgesprochen gemütlich wirkte. Borowka zuckte zusammen, als er von hinten angesprochen wurde:
„Guten Abend, haben Sie reserviert?“
Er drehte sich um und erblickte einen gepflegten, jungen Mann in einer Art Smoking. Sein Haar war mit viel Gel nach hinten gestrichen und der Rücken durchgedrückt. Über seinen Arm hatte er eine weiße Serviette gelegt.
„Öhm, nee“, stotterte Borowka leicht eingeschüchtert, „ich bräuchte aber ganz dringend für ein Notfall ganz viele Eiswürfel. Kann ich die bei Sie kaufen?“
Der Kellner verzog keine Miene und antwortete freundlich: „Nein, die müssen Sie nicht kaufen. Ich gebe Ihnen gerne welche mit. Warten Sie bitte hier, dann pack ich Ihnen etwas in eine Tüte.“
„Danke“, sagte Borowka, während der Mann im Smoking in der Küche verschwand.
„Ich wusste gar nicht, was es hier für schicke Läden gibt“, dachte Borowka, während er sich umsah. Plötzlich