Oellers sprang auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Sein Tonfall wurde barscher: „Sag mal, was genau hast du an der Satz ,Komm aufen Punkt‘ nicht verstanden?“
„Ach ja, klar, ‘tschuldigung“, beschwichtigte Borowka und kramte aus der kleinen Tasche, die sich oben an seiner Arbeitslatzhose befand, den gelben Krankenschein hervor, den er dort hineingestopft hatte, nachdem er ihn Regina gezeigt hatte.
Als Oellers mit geschultem Auge sofort erkannte, um was für ein Dokument es sich handelte, begann seine Halsschlagader zu pochen und seine Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich zu puterrot. Sein Adamsapfel sprang wild auf und ab, als er losbrüllte: „Jetzt reicht es mir aber, du mieser, kleiner Grottenolm. Ich steck dir jetzt auf der Stelle mein Regenschirm im Hintern und spann den auf. Dich haben se ja wohl mit der Hammer getauft. Kommst hier rein mit ein gelber Schein, obwohl du das letzte halbe Jahr öfters krankgeschrieben warst wie die Deutsche Bahn Verspätung hat …“
„Nee, Moment …“ wollte Borowka dazwischengehen, aber Oellers hatte sich bereits in Rage geredet.
„Ich bin noch nicht fertig, Kartoffelnase, oder hat einer die Null gewählt, dass du dich meldest? Du dämlicher Idiot. Ach, was sag ich? Dich als Idiot zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für alle dummen Menschen auf dieser Welt. Wenn Doofheit ein Verbrechen wär, dann hättest du lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Wie kann man nur so dreist sein? Langsam glaub ich wirklich, dass deine Eltern Chemiker waren. Du musst doch ein Versuch gewesen sein. Du bist echt was Besonderes. Und zwar ein besonders großes Arschloch!“
Oellers hielt kurz inne und riss die Schublade an seinem Schreibtisch auf. Für einen kurzen Moment glaubte Borowka ernsthaft, er würde dort einen Revolver herausziehen, um ihn zu erschießen, aber es handelte sich nur um ein Pillendöschen. Hektisch warf Oellers sich drei kleine rote Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Glas abgestandener Cola runter, das auf dem Tisch stand. Diesen kurzen Moment der inneren Einkehr nutzte Borowka und rief:
„Das ist ein Missverständnis, Chef. Ich bin kerngesund. Die Krankschreibung ist von der Fredi.“
Oellers starrte ihn überrascht an, blieb aber dennoch wie ein Gorillamännchen in Angriffshaltung mit seinen auf den Tisch gestützten Armen stehen. Leicht irritiert entgegnete er: „Wie, Fredi? Der feiert doch so gut wie nie krank.“
„Das ist richtig. Aber gestern beim Spiel gegen Krautdorf hat es ihn ziemlich übel erwischt.“
„Kreuzbandriss?“
„Schlimmer!“
„Schien- und Wadenbeinbruch?“
„Schlimmer!“
„Syndesmösenriss?“
„Noch schlimmer!“
„Sag mal, bin ich hier bei ,Der große Preis‘ oder was? Sag mir jetzt sofort, was der Trottel hat, sonst hau ich dir der Kopf auf den Rücken, dass du aussem Rucksack fressen kannst“, platzte es aus Oellers heraus und Borowka wiegelte erschrocken mit beiden Armen ab.
„Ist ja gut. Also, der hat beim Freistoß der Ball … also der stand genau in die Schusslinie … und wollte gerade eine Mücke verscheuchen … und der Ball ging … wie soll ich das sagen … direkt unter die Latte.“
Oellers ließ sich matt in seinen schweren Ledersessel fallen. „Ach du Scheiße. Der hat ein Ball in die Eier bekommen?!“
„Öh, ja, so kann man das auch sagen. Ich bin direkt mit dem im Krankenhaus gefahren. Der hat eine schwere Hodenprellung. Der sagte eben noch, die Dinger sind so groß wie Kokosnüsse und total blau angelaufen. Der kann weder sitzen noch liegen und braucht starke Schmerzmittel. Ich war eben bei der Dr. Hoppe und der hat dem so ein Hodenbänkchen verschrieben. Der muss das alles da unten jetzt hochlegen, damit das Blut zurückfließen kann, weil durch die Schwellung …“
„Erspar mir bitte die Details“, unterbrach Oellers ihn angewidert, „Hodenbänkchen! Wenn ich so was schon hör. Wobei ich mich schon wundern muss, dass der Fredi sich so eine Verletzung überhaupt zuziehen konnte. Ich dachte bisher immer, der hat überhaupt keine Eier. Haha.“ Er musste so laut über seinen eigenen Witz lachen, dass er ins Husten geriet und kleine Speichelfontänen auf den Schreibtisch spritzten.
Borowka lachte kurz aus Verlegenheit mit und sagte dann: „Das ist ganz schön hart für der Fredi. Der und dem seine Freundin wollen doch unbedingt ein Kind haben. Und der Arzt im Krankenhaus hat gesagt, dass der mindestens die nächsten sechs Wochen kein Sex haben darf. Die Sabrina ist total ausgeflippt deswegen.“
„Ach, die Trulla soll doch froh sein. Wo kämen wir denn hin, wenn solche Pfeifen wie der Fredi sich auch noch vermehren würden? Aber ich hab ja schon immer für dem gesagt, der soll das Fußballspielen drangeben. Wenn ich den immer über der Platz stolpern seh! Da denk ich jedes Mal, der hätte mit ein Storch gepokert und dabei die Beine gewonnen. Welches Arschloch von die Krautdorfer war das denn, der der Fredi der Ball im Klingelbeutel geschossen hat?“
„Manni Schröders. Der Sohn von Schröders Leo, der das kleine Reisebüro in Süsterseel hat, das letztes Jahr pleite gegangen ist.“ „Ach, der alte Verbrecher. Hat der Manni sich denn entschuldigt?“
„Ja, ja“, sagte Borowka, „das ist alles geklärt. Wir haben der Manni ja anschließend im Krankenhaus getroffen. Der war ja auch verletzt. Der hatte sich beim Zweikampf die Nase gebrochen … mehrfach.“
„Oh, da ist es aber hoch hergegangen.“
„Pokalfight halt.“ Oellers sah auf seine dicke goldene Uhr, die er mal günstig im Türkeiurlaub am Strand erstanden hatte, und sagte: „So, genug geplaudert. Ab an die Arbeit. Im Hof steht ein Zitrön Saxo, der braucht ein neuer Auspuff. Guck mal in unsere Altmetalltonne. Ich mein, da müsste noch einer drinliegen, den du passend kloppen könntest. Mach ein bisschen Montagepaste auf die Löcher, dann müsste das gehen.“
„Ja, mach ich, aber …“, druckste Borowka herum, „aber ich müsste vorher noch mal eben nach die Apotheke und nach dem Sanitätshaus, für der Fredi was Salbe und das Hodenbänkchen abzuholen. Der arme Kerl kann sich ja überhaupt nicht bewegen im Moment.“
Oellers holte tief Luft, atmetet dann aber wieder flach aus. Wie er es mal in einem Führungskräfteseminar von Fiat gelernt hatte, versuchte er, seine erneut in ihm aufsteigende Wut zu kontrollieren. Er war zwar sauer, dass Borowka sich wieder aus dem Staub machen wollte, andererseits war ihm natürlich daran gelegen, dass Fredi so schnell wie möglich wieder einsatzfähig wurde. Und so zügelte er sich und reagierte ungewohnt verständnisvoll: „Das verstehe ich natürlich. Aber wieso musst du das denn machen? Was ist denn mit die komische Olle von der Fredi?“
„Die kann nicht. Die muss arbeiten“, sagte Borowka, ohne sich der Konsequenz seiner Worte bewusst zu sein.
„Ja und du? Was musst du?“ Oellers schoss wieder aus seinem Sessel hoch. „Ich raste hier gleich komplett aus. Das Sanitätshaus ist in Heinsberg. Das dauert doch ewig, bis du zurück bist.“
„Ach, ich sag mal, höchstens anderthalb Stündchen.“
„Ich geb dir gleich anderthalb Stündchen, du Pimmelotter“, gab Oellers zurück, während sich die Zornesfalte auf seiner Stirn bedrohlich zusammenzog. „Ich guck jetzt hier auf meine original Rolex-Uhr. Wenn du nicht in exakt 45 Minuten wieder zurück bist, dann lass ich dich die Mopedkette abschmecken. Haben wir uns verstanden?“
Borowka nickte versteinert. Oellers musterte ihn und fügte hinzu: „Was ist los? Wartest du auf der Bus?“
Borowka rannte los. Der Countdown lief.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив