Schattenwelt
1
Samstag, 22. Juli, 11.27 Uhr
Ein klirrendes Geräusch ließ ihn aufschrecken. Er blinzelte, aber die tobenden Schmerzen in seinem Kopf verhinderten genaue Wahrnehmungen. Schatten, die sich hektisch bewegten, huschten vorbei. Dann hörte er eine Stimme. „Tschuldigung, war keine Absicht. Hast du ein Kehrblech, Marlene?“ Er hob leicht den Kopf und erkannte schemenhaft einen Mann mit einer sonderbaren Frisur. Er fokussierte seinen Blick auf die Haare und das Bild wurde langsam klarer. Die Mähne war dunkelblond, leicht gewellt, vorne kurz und hinten lang. Der Mann trug eine Art Blaumann voller Ölflecken und beugte sich vor, um etwas aufzuheben. Allmählich setzten sich die einzelnen Lichtpunkte für ihn zu einem Gesamtbild zusammen. Er lag auf dem Rücken, allerdings recht bequem. Entweder auf einer Couch oder in einem Bett. Unter seinen Kopf war ein Kissen geschoben. Im Raum befanden sich außer ihm noch vier Personen. Die anderen drei waren aber allesamt damit beschäftigt, sich um den Mann mit den lustigen Haaren zu scharen. Dem war offensichtlich ein Glas heruntergefallen. Darauf deutete jedenfalls der Satz der einzigen Frau im Raum hin:
„Pass auf! Nicht, dass du dich im Finger schneidest.“
Die Frau war sehr kräftig gebaut und trug einen blauen Kittel mit Blumenornamenten darauf. Ihre Füße steckten in groben Pantoffeln. Mehr konnte er nicht erkennen, da sie ihm ihren sehr großen Hintern entgegenstreckte, während sie sich bückte. Neben ihr stand mit verschränkten Armen und einem grimmigen Blick ein Landwirt. Jedenfalls schien seine Bekleidung darauf hinzudeuten. Er trug eine grüne Schiebermütze und eine Art Kassengestellbrille mit breitem Rand. Dazu ein grün-weiß kariertes Flanellhemd und eine etwas zu große, abgetragene graue Stoffhose, die notdürftig von ausgefransten Hosenträgern gehalten wurde. Doch der deutlichste Hinweis auf seine berufliche Tätigkeit waren die grünen Gummistiefel, an denen Reste von Kuhdung klebten. Der dritte Mann im Raum war eindeutig Arzt. Er trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals.
Da die vier immer noch damit beschäftigt waren, sich um das Missgeschick des merkwürdig frisierten Blaumanns zu kümmern, hatte er ein wenig Zeit, seine Gedanken zu sortieren. Er hob den Kopf leicht an, was unmittelbar stechende Schmerzen nach sich zog, und sah sich um. Eichenschrank, Fernseher, Sessel mit Fußablage, Tisch mit eingelassenen Fliesen. Er befand sich eindeutig in einem Wohnzimmer, also lag er wohl auf einer Couch. Noch einmal studierte er die Menschen, die gestikulierend beieinander standen. Was alle vier gemeinsam hatten: Er hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen! Bis auf die Frau, die sich in diesem Moment stöhnend erhob und ihm einen kurzen Blick auf ihr Gesicht gewährte. Es war rotbackig, freundlich und auf eine besondere Art attraktiv. Ihr wogender, barocker Körper passte dazu und verhieß eine lebensfrohe Ausstrahlung. Aber etwas störte ihn an dieser Dame. Natürlich – das war die Frau, die ihm zuerst eine Mistgabel ins Bein gerammt und dann einen Holzeimer über den Schädel gezogen hatte. In dem Moment, als er dessen gewahr wurde, pochte wie auf Knopfdruck sein linker Oberschenkel. Bislang schienen die Schmerzen offensichtlich vom Wirbelsturm in seinem Kopf überlagert worden zu sein. Er sah an sich herab und stellte fest, dass sein linkes Hosenbein knapp unterhalb der Leiste abgeschnitten und ein dicker Verband um seinen Oberschenkel gewickelt war.
Jetzt, da sein Blick wieder scharf gestellt war, konzentrierte er sich auf die Gespräche im Raum. Seine Sinne schienen demnach nicht beeinträchtigt worden zu sein von dem heftigen Schlag, den er gegen den Kopf bekommen hatte. Der Landwirt maßregelte gerade einen kleinen Hund, der kläffend ins Zimmer gelaufen kam.
„Knuffi! Aus. Aus, Knuffi! Gib der Papa sofort das Werbezettelchen zurück.“
„Jetzt lass ihn doch“, ermahnte die Frau ihn sanft, „der will doch nur damit spielen.“
„Spielen?“, echauffierte sich der Mann mit der Brille, „das scheint dem sein neues Hobby zu sein. Ständig zerfetzt der in letzter Zeit die ganze Post, die eingeworfen wird. Mit dem stimmt was nicht, der muss dringend mal zum Hundepsychiologen auf die Couch.“
„Also manchmal weißt du selber nicht, was du willst. Du sagst doch immer, dass der Knuffi nicht auf die Couch darf“, widersprach die Frau.
Der Landwirt schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich glaub, du willst mich nicht verstehen“, polterte er sich in Rage. „Selten hab ich so sinnlos Geld aus dem Fenster geschmissen, wie seit der Knuffi in die Hundeschule ist. Wenn der so weitermacht, schafft der noch nicht mal die Versetzung.“
Nun schaltete sich der Arzt in das Gespräch ein: „Beruhigen Sie sich, Herr Hastenrath. Das Verhalten ist völlig normal. Es gibt viele Hunde, die gerne Papier zerreißen. Damit bauen sie überschüssige Energie ab. Das scheint ein Relikt aus Urzeiten zu sein, als die Vorfahren der Hunde noch Jagd auf Beutetiere machten. Manchmal sind es aber auch nur Übersprungshandlungen, weil der Hund Langeweile hat. Wir haben einen Golden Retriever, den Bruno, der war früher auch immer ganz wild darauf, Papier zu erlegen. Am liebsten Klorollen. Wir haben es ihm abgewöhnt mit Kauknochen aus Rinderhaut. Damit kann man einen Hund schon recht lange beschäftigen.“
„Siehst du“, wandte sich der Landwirt wieder an seine Frau, „selbst der Golden Receiver von der Dr. Hoppe hat es gelernt. Guck mal, dass du auch so Kauknochen besorgst. Gestern fehlte schon wieder der halbe Sportteil, weil ich der Zeitungsjunge nicht rechtzeitig abfangen konnte.“
Inmitten der enormen Geräuschkulisse lag er leicht verspannt auf dem Sofa und lauschte der hitzigen Debatte über Hundeerziehung. Es beruhigte ihn und versetzte ihn sogar in eine Art Schwebezustand. Allerdings nur, bis plötzlich der dauergewellte Blaumann auf ihn zeigte und brüllte: „Ey, der Typ ist wach!“
Er zuckte zusammen, als sich plötzlich alle Blicke auf ihn richteten.
Der Arzt beugte sich zu ihm herunter und sagte professionell mit sonorer Stimme: „Guten Tag, mein Name ist Dr. Hoppe. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“
Das ist gut, dachte er, denn schon die ganze Zeit beschäftigten ihn zwei Fragen. Die erste war: „Wo bin ich?“ Und die zweite, weitaus wichtigere, lautete: „Wer, verdammt noch mal, bin ich?“
Aufbruch
2
Samstag, 22. Juli, 18.17 Uhr
„Was ist denn eine asoziale Amnesie?“, fragte Fredi Jaspers und legte dabei seinen Kopf schief.
„Boah, nicht asozial“, rief Borowka genervt, „ich hab gesagt ,dissonzonational‘. Nee, Moment, jetzt muss ich selbst noch mal nachgucken.“ Ungeschickt entfaltete er ein öliges DIN-A4-Blatt, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hatte.
„Hier steht es“, sagte er nach kurzer Suche. „Disso … zia … tive Amnesie. Das sagt man dafür, wenn einer sein komplettes Leben vergessen hat. Im Prinzip ist das wie ein Filmriss, außer, dass davon nicht nur der letzte Abend betroffen ist.“
„Wieso hast du dir das Wort aufgeschrieben?“, fragte Fredi.
„Sag mal, ist das die einzigste Frage, die dir dazu einfällt? Ich hab mir das alles aufgeschrieben, weil … weil die Rita das genau wissen wollte. Aber überleg doch mal, wie abgefahren das ist, wenn einer alles vergessen hat: Wer der ist, wo der herkommt, was der jemals gemacht hat in sein Leben.“
Borowka war kaum zu bremsen in seiner Euphorie, während Fredi geistesabwesend auf das Etikett seiner Bierflasche stierte. Die beiden saßen in der Küche seines Hauses, genauer: seines Elternhauses, das er gemeinsam mit seiner Verlobten Sabrina renoviert hatte. Dort war genug Platz für eine ganze Familie – und genau das war Fredis Problem und auch der Grund, warum er Borowkas Erzählungen nur mit einem halben Ohr zuhörte. Seit nunmehr vier Jahren versuchten Sabrina und er Eltern zu werden, doch es wollte einfach nicht klappen. Immer mehr hatte dies in den letzten Monaten zu Belastungen und Streit in ihrer Beziehung geführt, obwohl Fredi sich redlich Mühe gab, immer die genau errechneten Eisprungtermine für den Beischlaf zu reservieren. Einmal hatte er deswegen sogar die alljährliche Fahrt mit der Fußballmannschaft nach El Arenal abgesagt, was ihm