Schließlich war alles verstaut, und ich sah von meinem großzügigen Balkon aus über die sehr belebten Fahrbahnen hinweg in die Ansammlung von allem Möglichen auf der anderen Straßenseite. Dass dahinter das Meer war – man musste es einfach wissen. Vage überschlug ich, wie viel Wein und Grappa wohl nötig wären, um mit ausreichend ‚Ohropax‘ im Gehörgang am Lärm vorbei ein wenig Nachtschlaf zu finden. Das schwarze Tuch würde mich dabei vor überschüssigem Licht schützen. Ich weiß ja, dass ich nicht sensibel bin, aber dass ich empfindlich bin, kann mir keiner absprechen.
71Wir ruhten uns aus, Rafał von Fahrt und Schlepperei, ich von nichts. Wegen des schon während der Planungsphase im Hamburger Februar gewussten opulenten Mittagsmahles hatte ich für den Abend nur eine Kleinigkeit im Hotel vorgesehen. Das Hotel-Restaurant war geschlossen: Umbau, dem auch der Garten zum Opfer gefallen war. Wenn man wohin kommt, wo man noch nie war, muss man mit so etwas rechnen. Wenn man wohin kommt, wo man schon mal war, auch. Wir ließen uns etwas empfehlen, gleich die Straße runter, stiegen ins Auto und fuhren da nicht hin. Stattdessen hatte es uns der höchste Punkt angetan: Hügelaufwärts, ganz oben, lockte ein Obelisk. Zu dem fuhren wir, war gar nicht so schwierig. Gleich dort lag am Hang ein Lokal, das mir sofort gefiel, zurückgesetzt hinter einem überrankten Vorbau. Viele Wagen.
„Samstagabend, sicher kein Platz“, dachte ich. Rafał quetschte sich trotzdem in die letzte Lücke, wir stiegen aus und die Stufen zum Vorgarten nach oben: ,Al Faro‘. Gleich würde die laue Abgeschiedenheit einer lärmigen Abendgesellschaft weichen. Nee. Die Terrasse war fast leer. Ich war verblüfft. „Aha, ganz schlechtes Essen“, dachte ich. War aber nicht so. Das Essen war sehr gut, Triest lag uns unsichtbar zu Füßen, und die Stehklos ohne Sitze wiesen darauf hin, dass sich nun der erste Abend neigte, an dem wir wirklich in Italien waren, selbst wenn auch diese Gegend bis 1919 zur Donau-Monarchie gehört hatte. Und dann waren bei ,Maria Theresia‘ die Fenster auch noch so gut isoliert, dass ich problemlos schlafen konnte. Rafał erkundete währenddessen die Umgebung. Seine Probleme sind andere als meine, in dieser Hinsicht.
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AUFSCHNEIDER & ABSTECHER
UMWEG #17
SAMSTAG, 16. JULI 2016
Es war mein drittes Mal in Triest. 1991 war ich – auch von Meran aus – dort gewesen, in Vor-MeBo-Zeiten, neun Monate nach Rolands Tod. Mit Bill (tot) und mit Giuseppe (lebt noch). Roland hatte Bill kennengelernt, als ich – wie ständig – auf Geschäftsreise gewesen war; er war Roland zugefallen wie mir Giuseppe. Innigere Beziehungen hat es von unseren nächtlichen Ausflügen ohne einander nie gegeben. Damals lebte Bill in Los Angeles, wo Roland und ich ihn mit Silke besuchten, und später in Houston, wo ich ihn traf, einmal sogar mit Irene. Bills Mutter stammte aus dem Tessin, und bevor Bill Roland und mich in Hamburg besuchen kam, machte er jedes Mal einen Abstecher in die Schweiz, wo er mexikanische Drogengelder wusch. Ich fürchtete immer, er würde deshalb irgendwann seinem eigenen Abstecher ins Messer laufen, aber er starb doch 1999 ganz normal an Aids. Er war eher scheu und sagte zu mir: „Da habe ich ein Mal Sex, und dann noch richtig schlechten, und gleich kriege ich Aids.“ Er wusste, dass das komisch klang, aber wir lachten ja dauernd über Dinge, die wir so unendlich traurig fanden.
Bills berufliche Ambitionen wurden nie zwischen uns thematisiert, nur, dass er mit Mexikanern ‚zusammenarbeitete‘ und in Zürich auf die Bank ging. Er hatte Geld und sah hübsch aus. Selbst eine verkümmertere Fantasie als meine würde da ein Drehbuch wittern.
Bill war so wunderbar negativ, wie ich es nie geschafft habe, zu werden. Mit niemand anderem habe ich so über die Aussichtslosigkeit alles Lebenden herziehen können wie mit ihm. Ich füge hier einen gekürzten Tagebuch-Ausschnitt von 1991 ein, der meine damalige Verfassung wiedergibt. Vor nun also fünfundzwanzig Jahren schrieb ich:
Am Dienstag, 22. Oktober, abends gegen halb sieben setzte ich mich in mein repariertes Auto und fuhr nach Bozen, um dort Bill am Bahnhof abzuholen und mit ihm zu Giuseppe zu fahren. Meine Eltern winkten in die abendliche Dunkelheit, und mir war beklommen zumute. Auch Abschiede auf kurze Zeit können bewegend sein, weil es keine Garantie gibt, dass die 73Zeit der Trennung wirklich kurz sein wird. Allein im Auto auf Reisen zu sein, war ein Zustand, auf den ich mich ein paar Minuten lang einstellen musste, das voll aufgedrehte Radio half dabei, und bald war ich selber aufgedreht. Die Landstraße hat ja für viele, auch für mich, etwas Besonderes, nicht ohne Grund zieht sie sich als Thema durch viele Spielfilme. Immer denkt man: Vor dem nächsten Lastwagen beginnt die große Freiheit, man spürt den Gegenverkehr fast schmerzhaft im linken Auge, in der linken Brusthälfte, und man wägt das Risiko ab, den Lastwagen zu überholen, um die Lust der Grenzenlosigkeit einzuatmen – oder doch besser hinter ihm zu bleiben, um nicht den Rest seiner Strecke querschnittgelähmt im Rollstuhl zu fahren.
Eigentlich weiß man, die grenzenlose Freiheit endet hinter dem nächsten Siebentonner, also vierhundert Meter weiter. Aber den kann man ja ebenfalls überholen. Vielleicht überholt man sich sogar irgend-wann selbst und sieht mitleidig-triumphierend im Rückspiegel auf sich zurück: Alle Skrupel, alle Erinnerungen haben wir – endlich! – hinter uns gelassen, und vor uns liegt diese idiotische Weite, deren Unbehaustheit uns das Gefühl gibt, wir könnten etwas errichten auf ihr, was Spätere dann im Vorbeisausen wahrnehmen werden wie das Hinweisschild auf ein Motel, das mangels Kundschaft schon vor Jahren eingegangen ist.
Die beflügelnde Fahrt meiner Gedanken wurde jäh gestoppt durch die aufleuchtenden Bremslichter meines Vordermannes. Rücklicht reihte sich an Rücklicht, endlose Kette roter Punkte, die sich wie ein schlafender Leuchtwurm durch die langgestreckte Kurve zog. Nachdem ich das Lichtspiel zehn Minuten lang genossen hatte, stieg ich aus und traf zwanzig Meter weiter vorne auf einen wunderhübschen, zierlichen Lastwagenfahrer, der freilich meine Neugier mehr anstachelte als befriedigte, obwohl er mir mitteilen konnte, dass weit, weit vorn zwei ineinander verkeilte Autos auseiander-geschweißt werden müssten.
Ende einer großen Freiheit …? Ich redete noch dies und das mit ihm, um eine Ausrede zu haben, meinen entleerten Blick an ihm aufzutanken. Diesen feingliederigen Menschen konnte ich mir überhaupt nicht hinter dem Steuer dieses 74Ungetüms vorstellen, aus dem er gestiegen war, eher schon mich mit ihm in der Koje hinter dem Fahrersitz.
Verträumt begab ich mich zurück in meinen Wagen: Der Situation, eingekeilt in die endlose Autoschlange, in das Dunkel der Landstraße und in meine aus- sichtslosen Zusammenstöße mit dem drahtigen Lastwagenfahrer, konnte ich etwas abgewinnen, was mich über das einstündige (!) Warten hinwegtröstete. Stau drinnen, Stau draußen. Alles, was ich bin und habe, ist mit Roland gestorben, mir bleibt nur noch, was ich kann – und das ist, aus allem etwas Absurdes zu machen, auch aus dem Absurden: Die Perversion ist das Einzige, was mich noch am Leben hält. Besser als gar nichts, und so versuche ich, mich in ein neues Leben oder einen (verdienten) Tod zu hangeln.
Es blieb, zunächst mal, beim Leben. Bill wartete schon unruhig. Immerhin hatte er noch nicht bei meinen Eltern angerufen und dort Alarmstimmung ausgelöst. Wir rasten durch die Finsternis der Autostrada bis Vicenza Ovest, wo uns Giuseppe an der Ausfahrt erwartete. Es hatte gutgetan, ins Gaspedal zu treten und alles das, was ich schon unzählige Male auf Deutsch gesagt hatte, zu jedem, der Roland kannte, auf Englisch zu wiederholen. Giuseppe führte uns in ein nahes Restaurant, es war nach zehn