Inzwischen bin ich Vollwaise.
Unter anderen Umständen, bei anderer Lebensführung hätte ich jetzt keinen Schlaganfall, sondern Kinder. Sogar Enkel. Schicksal! Mit Familie ist es wohl vorbei für mich, aber: Ich habe Freunde. Und so bin ich Euch aufrichtig dankbar, dass Ihr mich durch diese eigentümlichen Tage begleitet.
Ganz besonders danken möchte ich Silke und Rafał. Silke und Rafał sorgen jeden Tag für mich, und sie setzen meine Ideen um in Taten. Ich sage bloß ‚Fragsburg‘, aber Silke organisiert das. Ich sage bloß ‚Ossobuco‘, aber Rafał schmort es. So gut habe ich es.
Die Anreise hierher ist ein bisschen beschwerlich, bis ‚Lana International‘ endlich eröffnet wird, kurz vor Berlin-Schönefeld. Wie schön, dass Ihr trotzdem alle hier seid. Auf Euch! Auf mich! Auf uns!
52Danach zeigte ich einen Film. „Besser bei Regenwetter als bei 38 Grad im Schatten“, stachelte ich mich an, um die Darbietung zu genießen. Manchmal reicht es ja, sich auszumalen, wie viel schlimmer alles hätte kommen können, um mit dem Ist-Zustand seinen Frieden zu machen. Für Euphorie langen solche Überlegungen allerdings selten aus.
Der Film, den ich kurz vor der Abreise von Hamburg aus Bestehendem zusammengeschnitten hatte, zeigte den Schmiedlhof, oberhalb von Lana. Dort war ich ab Mitte der Sechzigerjahre mit Harald, später auch mit Roland, alljährlich für ein, zwei Wochen gewesen. Anfangs war das unserem studentischen Budget angemessen, später Weltflucht ins Ländliche. Die Wirtin Maria Malayer, hatte ich zu ‚Mary, der Herrscherin von Grissian‘ hochstilisiert und aus der braven Wirtin eine gemeingefährliche Terroristin gemacht. Selbst die grün schillernden Schmeißfliegen gehorchten ihrem Kommando. Ohne solche Uminterpretationen der Wirklichkeit bin ich schon seit frühester Kindheit nicht ausgekommen. Marys Sohn hatte eine verhärmte Frau geheiratet, die in ihrem Lady-Macbeth-haften Ehrgeiz darauf bestanden hatte, oberhalb des urigen Schmiedlhofs ein modernes Hotel zu errichten. Jedenfalls trauten wir ihr diesen Frevel eher zu als Marys phlegmatischem Nachwuchs.
Nachdem der Film also zur Einstimmung verdaut war, zerquetschte Aufständischen-Leiber und unter Schmeißfliegen begrabene Gesichter inklusive, machten wir uns auf den zugeregneten Weg in die Höhe. Gerade, als wir nach dreiviertelstündiger Fahrt vor dem Schmiedlhof parkten, durchbrach die Sonne die Wolkendecke: Wir stiegen aus unseren Archen und dankten Gott für den neuen Bund. Draußen an den langen, wettergegerbten Holztischen mit Blick auf Meran links und Bozen rechts zu sitzen, war unmöglich, aber auch an die heimelige Gaststube hatte ich lebhafte Erinnerungen: Bei meinen Wutanfällen über ein schlechtes Blatt hatte ich dort abends so manche liebe Skatkarte zerfetzt.
Es gab ‚Speck am Brettl‘, und Albert als Ortsansässiger verstand ihn so meisterhaft dünn zu schneiden, wie ich das nicht mal mit der Maschine hinbekäme.
Mary ist ja seit zwölf Jahren tot. Sie soll erhebliche Mengen an ‚Williams Birne‘ nicht bloß an die Gäste ausgeschenkt haben. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war aus einer fetten Matrone eine dürre 53Alte geworden. Im fünfhundert Jahre alten Flur plauderte ich mit Marys gutherzigem Enkel über Sommer, die weit vor seiner Zeit lagen. Er griff in die mir vertraute Kühltruhe und trank mit mir einen tiefen Schluck auf die Oma. Und all die vielen Toten, mit denen ich hier dereinst gestanden hatte, sahen zu und rührten sich nicht.
Unsolidarischerweise gingen oder fuhren wir dann die fünfzig Meter aufwärts zu seinem Onkel im ‚Grissianer Hof‘. Der Ort Grissian besteht aus diesen beiden Häusern und einer Feuerwehr-Station. Wenn es brennt, ist der Schlauch nicht weit.
Wir hatten wieder eine schöne, lange Tafel. Die Sitzordnungen für die einzelnen Veranstaltungen drückt mir Silke immer rechtzeitig in die Hand, damit nicht plötzlich zweimal dieselben Leute nebeneinander sitzen: Das wäre ein gastgeberischer Fauxpas. Wichtig auch, dass jede Dame einmal mich zum Tischherrn hat. So etwas ist genauso wichtig wie die Speisefolge, aber ich habe genügend internationale Meetings ausgerichtet, um an solchen Aufgaben nicht zu verzweifeln. Mary, die in ihrer rußgeschwärzten Küche zwischen Schnitzel und Schweinsbraten hin und her gewechselt war, hätte sich womöglich darüber gewundert, dass sich ihr Sohn, agenturberaten, schon im Internet anpreist: „Wir möchten unseren Gäste vor allem mit regionalen Produkten ein ganz besonderes Geschmackserlebnis bieten.“ Das Geschmackserlebnis hielt den Anforderungen stand; wir hatten ja auch schon einiges im Magen. Sehr froh war ich, dass später unten im Ort niemand den Vorschlag machte, aufzubleiben, bis mein neues Lebensjahr begann. Carsten, Rafał und Giuseppe traue ich zu, um Mitternacht zwischen all den jungen Männern im ‚Rossini‘ einen Schluck auch auf mein Wohl getrunken zu haben, falls sie dort nicht gerade anderweitig beschäftigt waren.
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FÜNF STERNE UNTER GRAUEM HIMMEL
UMWEG #11
SONNTAG, 19. JUNI 2016
Siebzig zu werden ist kein Ruhmesblatt, seit es Antibiotika gibt. Bedeutende Menschen haben dieses Alter zuvor nicht erreicht, längst Vergessene haben es seither weit übertroffen. Ich liege wie üblich im Mittelfeld dazwischen, habe also eine noch mindestens so glorreiche Zukunft, wie Honecker sie der DDR zum vierzigsten Jubiläum vorhergesagt hat.
Hatten wir gestern auf dem Weg zu Mary die Hänge westlich der Etsch erobert, so machten wir uns heute auf den Bergweg östlich des Flusstals: zur Fragsburg. Alles aus möglichst vielen unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist in westlichen Köpfen und Medien verankert: Der Kapitalismus muss sich in die Konsumenten hineinversetzen und Gemeinsamkeiten auf- spüren – wie will er sonst der Kund- schaft etwas verkaufen? Dem strammen Sozialisten reicht die edle Idee, der Ungläubige muss sich an der Kasse etwas einwickeln lassen, um Befriedigung zu finden. Die noble Fragsburg liegt in über- schaubarer Höhe. Früher ließen wir dort das Auto stehen, spazierten die Wiesen erst aufwärts, dann wieder abwärts und aßen anschließend an karierter Tischdecke Kaiserschmarrn. Jetzt nicht mehr.
„Eingebettet in die alpin-mediterrane Bergwelt Südtirols thront das Schlosshotel ,Castell Fragsburg‘ als ein Refugium der Ruhe hoch über Meran.“ Und weiter: „Egal, wie oft wir selbst unsere cinematographische Glas-Loggia schon betreten haben und über die Brüstung der Panorama-Terrasse hin-weg die faszinierende Kulisse Merans erblickten, selbst wir sind jedes Mal aufs Neue von der gewaltigen Schön-heit der Natur rund um uns wie verzaubert“, singen alle vom Fünf-Sterne-Generaldirektor aus Wien bis zum Zwiebelzerkleinerer aus dem Senegal unter Tränen im Werbechor der Homepage.
An Draußenessen war nicht zu denken, Panorama hin oder her, aber das 55Getränkebüfett konnten wir doch für den Aperitif in der Veranda ‚plündern‘, dazu gab es schon mal ein paar Häppchen, die im Senegal eine ganze Familie ernährt hätten. Nun packte ich wie vorgesehen meine Geschenke aus und war gerührt über Einfallsreichtum und Einfühlungsvermögen meiner Freunde. Da ich mir den Ruf erworben habe, kaufen zu können, was ich will, besteht die Herausforderung darin, mich mit Dingen zu überraschen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Inzwischen habe ich die Bücher gelesen, die Kleidungsstücke angetragen und meine Vorfreude auf den Besuch der Elbphilharmonie gesteigert.
Während immer mehr farbiges Papier auf dem Holzboden landete, wurden die Kanapees weniger, die Gläser leerer und die Berge freier. Ich sah mir die feierliche Tafel an: ging gar nicht! Silkes telefonische Anordnung war nicht befolgt worden. Fürs Personal ist es natürlich bequem, wenn oben und unten niemand sitzt und die Bedienenden den Tisch leichtfüßig umrunden können. Mit meiner Sitzordnung war es unvereinbar, denn es hätte bedeutet, dass vier Personen auf je einer Seite keinen Nachbarn hätten, und zwei dieser Unglücklichen wären ausgerechnet Silke und ich gewesen. Wir gehörten ans Kopf- und ans Schwanz-, äh, an die beiden Kopfenden. Es musste eilig umdekoriert werden, dann kamen auch schon die Frohgestimmten leicht fröstelnd von draußen. Nun saßen wir so weit auseinander, dass jede Unterhaltung den Kehlkopf übermäßig strapazierte.