Weiter können diejenigen, die als Christinnen und Christen Träume in der Traumarbeit einbringen, und diejenigen, die sie zu bearbeiten helfen, mit aktuellen Impulsen des Heiligen Geistes für das Verständnis von Träumen rechnen. Das kann sich zum Beispiel unspektakulär darin ereignen, dass sich in einem Gespräch, in dem der Heilige Geist einbezogen wird, bei einem zunächst unverständlich erscheinenden Traum eine überraschende Klarheit zeigt. Oder es kann durch den Heiligen Geist zu einem deutlichen inneren Eindruck kommen, den ein Ratsuchender oder Begleiter als deutendes Reden Gottes zum Verstehen eines Traumes erlebt.
Schließlich kann der Heilige Geist bewusst erbeten werden, wenn es darum geht, die Einsichten und Hinweise eines Traumes im praktischen Lebensvollzug umzusetzen. Der Heilige Geist bewirkt immer wieder durch Träume Prozesse der Heiligung und Verwandlung in denen, die Jesus nachfolgen. Dieser Zusammenhang wird uns noch im Abschnitt 6.5 ausführlicher beschäftigen.
Fassen wir den Ertrag der theologisch-geistlichen Begründung für das geistliche Verstehen von Träumen und die Verwendung psychologischer Einsichten im seelsorglichen Umgang mit ihnen zusammen:
– Die Begründung ist mit dem Glauben an den dreieinigen Gott gegeben. Gott der Schöpfer hat den Menschen mit dem Unbewussten geschaffen. Er hat ihm die Fähigkeit zu träumen geschenkt. Das schenkt uns die Freiheit, psychologische Einsichten zur Traumdeutung in die seelsorgliche Begleitung einzubeziehen.
– Jesus Christus schenkt mit seiner Erlösung einen nüchternen Blick für die Realität der Sünde sowohl in einer sich selbst überhöhenden Wissenschaft als auch in Träumen. Und er öffnet die Tür zu Heilung, Verwandlungsprozessen und zur Vergebung.
– Der Heilige Geist bezieht sich auf Gottes Schöpfung, wozu auch das Unbewusste und die Träume gehören, und hilft, sie im Sinne der Heiligung aufzugreifen und zu leben. Der Heilige Geist kann darüber hinaus auch Offenbarungsträume schenken, die ein rein psychologisches Verstehen von Träumen übersteigen.
Vor dem Hintergrund des soeben Dargelegten ist nun eine theologisch begründete anthropologische Standortbestimmung möglich. Mit der Grafik versuche ich sie anschaulich zu machen.
Die Abbildung versucht, die Verbindung (und Unterscheidung) der psychischen Verfasstheit des Menschen bei gleichzeitiger Bezogenheit auf die Realität Gottes (und der Sünde) im Hinblick auf einen seelsorglichen Umgang mit Träumen zu veranschaulichen:
Der kleinste Kreis stellt das Bewusstsein dar, also das, was sich im Laufe der Entwicklung an Ich-Bewusstsein entwickelt hat. Das Unbewusste umgibt das Bewusstsein als ein größeres Ganzes.7 Zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten besteht ein vielschichtiges Verhältnis von wechselseitiger Beeinflussung. Vielschichtige Eindrücke des täglichen Lebens erreichen das Unbewusste, und umgekehrt kommen Impulse aus dem Unbewussten ins Bewusstsein. Der Doppelpfeil weist auf diesen wechselseitigen Austausch hin. Man kann nun sagen, dass die Träume an der Grenze zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten angesiedelt sind. Sie greifen in ihrer Bildwelt Eindrücke des Bewusstseins auf und gestalten sie vom Unbewussten her in spezifischer Weise um.
Das Ich-Bewusstsein und das Unbewusste werden von der Realität Gottes und von der Realität der Sünde umgriffen, in der Grafik mit einem hellen und einem dunkelgrauen Ring symbolisiert. Beide Realitäten stehen in Verbindung mit dem Bewusstsein und dem Unbewussten und wirken auf sie ein; diese Verbindung deuten die gestrichelten Pfeile an. Der helle Ring umgreift den dunkelgrauen: Die Realität Gottes und seine Erlösung überwinden die Realität der Sünde, auch wenn damit die Sünde noch nicht endgültig bedeutungslos geworden ist. Der helle Ring, der den dunkelgrauen umfasst, soll die Wahrheit des paulinischen Wortes aus Römer 5,18 darstellen: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden.“
Freilich ist bei dieser Darstellung eine Abgrenzung nötig: Wenn in der grafischen Darstellung die Realität der Sünde von der Realität Gottes umschlossen dargestellt ist, soll damit nicht gesagt werden, dass das Böse und der Böse in Gott selbst hineingenommen sind. Diese Vermischung von Gut und Böse in Gott wird von Carl Gustav Jung und seiner Schule vertreten; darauf wird in Abschnitt 6.4.1 bis 6.4.6 näher eingegangen. Eine solche Vorstellung entspricht nicht dem biblischen Denken. Ihr soll durch die grafische Darstellung nicht Vorschub geleistet werden; darin liegt eine Grenze der Darstellung. Hier geht es lediglich um die Aussage, dass die Sünde nicht neben oder über Gott steht, sondern ihm untergeordnet ist.
Das soeben Dargelegte hat unmittelbare Folgen für die Arbeit mit Träumen innerhalb der Seelsorge: Diese Arbeit will in einer Wachsamkeit für die Beziehung zur Realität des gegenwärtigen Gottes und zur Realität der Sünde getan werden. In der Symbolwelt der Träume werden sich immer wieder Spuren des Wirkens Gottes und Spuren der Sünde erschließen lassen. Diese Spuren sind zumeist nicht in unmittelbar religiösen Symbolen, sondern häufig in andeutenden Bildern und Handlungszusammenhängen im Traum zu erschließen und warten darauf, aufgegriffen und verarbeitet zu werden.
So können Träume in der seelsorglichen Begleitung eine wichtige Hilfe sein, den roten Faden im (geistlichen) Leben zu finden, zeigen sie doch häufig sehr eindrücklich und einprägsam, wo die Seele der Ratsuchenden steht und was für sie in den Blick zu nehmen ist. Immer wieder ermöglichen Träume beeindruckende Einblicke in das Wesen eines Menschen und zeigen sich dabei in ihren Urteilen als unparteiische Quelle der Information über den Zustand der Seele. Sie weisen ebenso auf Wachstum und Verwandlung wie auf Stillstand und ungesunde Orientierung der Träumenden hin. Es zeigt sich, dass unter geistlichem Gesichtspunkt Gotteserfahrung und Selbsterfahrung zusammengehören; beides ist zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Sehr treffend bemerkt in dieser Richtung Ulrich Kühn: „Zum ganzheitlichen Glauben gehört demnach, auch das einzubeziehen, was unbewusst ist und etwa durch Träume bewusst werden kann. Ganzheitlich glauben heißt für mich, den verdrängten und abgespaltenen Teilen der Persönlichkeit zu begegnen und – wenn sie ins Bewusstsein drängen – sie nicht länger abzuwehren.“8 Wenn ich offen bin für das, was meine Träume anzeigen, werden sich immer wieder beide Erfahrungsweisen von psychischer Befindlichkeit und geistlicher Realität miteinander verbinden. Das, was ich wahrnehme, will an der Hand Gottes aufgenommen und ausgehalten werden – auch dort, wo es Unangenehmes und Unheiles in mir betrifft. Dieser ehrliche Blick auf sich selbst ist umschlossen vom liebevollen Anblick Gottes, der ohnehin weiß, was in mir alles schlummert. Zugleich gilt: Träume zwingen uns nichts auf und sie legen uns nicht negativ fest. Sie sind eine gute Gabe Gottes auch dort, wo sie uns zu einer nüchternen Selbsterkenntnis aufrufen. Indem wir sie annehmen, helfen sie uns zu geistlichem und menschlichem Wachstum.
2.
Exkurs in die Schlafforschung und Neurobiologie der Träume
Die menschliche Fähigkeit zu träumen ist psychophysisch hochkomplex. Es ist ebenso interessant wie hilfreich, sich einige grundlegende Zusammenhänge dieses Geschehens klarzumachen. Ich bin kein Spezialist in neurologischen Fragen. Deshalb werde ich mich mit den neurobiologischen Zusammenhängen nur so weit befassen, wie es mir für den Zusammenhang dieses Buches relevant erscheint.9
2.1 Ein Blick auf die Schlafforschung
In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat die Traum- und Schlafforschung entdeckt, dass der nächtliche Schlaf sich in Rhythmen vollzieht. In regelmäßigen Abständen treten Schlafphasen mit raschen Augenbewegungen, die sogenannten REM-Phasen (Abkürzung für rapid eye movement) auf. Im REM-Schlaf zeigt sich im Gehirn eine hochfrequente Aktivität, die der im Wachzustand ähnelt. Deshalb bezeichnet