Zum Geleit
Das neue Buch Gottfried Wenzelmanns will eine Lücke im seelsorgerlichen Handeln in Kirche und Gemeinde schließen. Seine Leitfrage lautet: Welche ungenutzten Chancen bietet die Traumdeutung für die Seelsorge? Gleich aus einem doppelten Grund verwundert die Vernachlässigung der Träume in der seelsorglichen Begleitung heute: Schon ein oberflächlicher Blick in die Bibel zeigt nämlich, dass Träume für das Leben von Menschen häufig eine wichtige Rolle gespielt haben. Überdies gelten seit der Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud Träume als Königsweg zum Unbewussten. Erstaunlicherweise haben weder in der seit den 1970er-Jahren vorherrschenden humanwissenschaftlich geprägten Seelsorge noch in der parallel dazu sich formierenden biblischen Seelsorge Träume größere Bedeutung gewonnen. Einzig in der charismatischen Seelsorge wurden von Anfang an Träume berücksichtigt. Weil Charismatiker davon ausgehen, dass der Geist heute nicht anders als in biblischen Zeiten wirkt, erwarten sie seine Hilfe in der Seelsorge auch durch Träume und Visionen. Gottfried Wenzelmann verdankt der charismatischen Seelsorge viel. Die Begegnung mit dieser hat ihn für die Dimension des Traumes im seelsorgerlichen Handeln sensibilisiert.
Immer wieder berichten die biblischen Texte von Träumen und Visionen. Das gilt für das Alte Testament in hervorgehobener Weise – man denke nur an die Josefsgeschichte. Aber auch im Neuen Testament spielen besonders für die Geburtsgeschichten nach Matthäus, für die Apostelgeschichte und für die Offenbarung Träume eine wichtige Rolle. Nach Matthäus führt Gott die an der Geburtsgeschichte beteiligten Personen primär durch Träume: Josef erscheint im Traum der Engel des Herrn, damit er die schwangere Maria nicht verstößt (1,20 ff.); im Traum befiehlt Gott den Weisen aus dem Morgenland, nicht zu Herodes zurückzukehren (2,12); Josef erhält im Traum die Anweisung, nach Ägypten zu fliehen und von dort wieder nach Israel zurückzukehren (2,13; 2,19 f.). Auch in der Apostelgeschichte spielen Träume und Visionen eine wichtige Rolle: In einer Vision wird Petrus auf die Begegnung mit Kornelius vorbereitet (10); Paulus erscheint bei Nacht ein Mann aus Mazedonien – eine Vision, die für den weiteren Weg der paulinischen Missionstätigkeit entscheidend ist (16,9 f.); in Korinth hat Paulus bei Nacht eine Vision des Auferstandenen, die ihn der Beauftragung, das Evangelium zu verkündigen, gewiss machen soll (18,9 f.); während der Schifffahrt nach Rom begegnet Paulus bei Nacht ein Engel und verheißt ihm die Rettung der Mitreisenden (27,23 f.). Die Visionen aus der Offenbarung sollen die Gläubigen in Verfolgungen des endgültigen Sieges Christi versichern.
Neben den biblischen Anstößen verdankt Gottfried Wenzelmanns Entdeckung der Träume für die Seelsorge auch der Psychologie und den unterschiedlichen therapeutischen Schulen wesentliche Einsichten. Es spricht nicht gegen die Integration von Träumen in die Seelsorge, dass diese nicht ausschließlich aufgrund biblischer Motive erfolgt. Erkenntnisse über den Menschen, die auf dem Weg der Wissenschaft neu gewonnen wurden, stellen einen schöpfungsbejahenden Akt dar und können deshalb das seelsorgerliche Handeln bereichern. Träume haben das Potenzial in sich, zu größerer Selbsterkenntnis zu helfen. Schon Jesus war der Überzeugung, dass die Wahrheit den Menschen freimacht (Joh. 8,32). Gottfried Wenzelmann ist überzeugt, dass die Beachtung der Träume eine wesentliche Voraussetzung darstellt, um in der Heiligung voranzukommen. Auch die Tatsache, dass die westlichen Kulturen zunehmend von visuellen Medien geprägt werden und viele Menschen primär über Bilder ansprechbar sind, spricht für die Integration von Träumen in die Seelsorge. Allein verbal übermittelte Botschaften kommen kaum noch an. Angesichts dieser Situation erleichtert die Einbeziehung von Träumen in der seelsorglichen Begleitung es den Hilfesuchenden, vertieften Zugang zum Wirken des Geistes im eigenen Leben zu bekommen.
Im Buch werden auch die Gefahren einer Integration der Träume in das seelsorgerliche Handeln nicht verschwiegen. Der Autor hebt mit Recht immer wieder hervor, dass die Berücksichtigung von Träumen in der Seelsorge ein großes Maß an Sensibilität aufseiten des Seelsorgers und der Seelsorgerin verlangt. Träume sind viel stärker noch als Worte für eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten offen und können darum auch leichter in die Irre führen. Weil der Traum Tiefenschichten der menschlichen Persönlichkeit aufschließt, die dem Wachbewusstsein verschlossen bleiben, sind die Folgen einer falschen Deutung besonders gravierend. Nicht ohne Grund wird besonders im AT vor falschen Propheten gewarnt, die mit ihren Träumen das Volk zum Übertreten der Gebote Gottes verführen wollen (Jer. 23,25 ff.; 29,8ff.). Die falschen Propheten setzen Träume ein, um Israel zu manipulieren. In Jeremia 23,25 ff. wird der Traum darum sogar scharf abgelehnt. An seine Stelle tritt das gesprochene Wort Gottes.
Gottfried Wenzelmann scheut sich nicht, klare theologische Bewertungen vorzunehmen – sowohl im Hinblick auf die Grenzen psychologischer Traumdeutung als auch im Hinblick auf Versuche, die biblische Rolle von Träumen eins zu eins auf heute zu übertragen. Er vertritt einen integrativen Einsatz, indem er biblische und psychologische Zugangsweisen zu Träumen miteinander ins Gespräch bringt. Dabei kann er zeigen, dass sich beide gegenseitig bereichern können.
Besonders hervorheben möchte ich schließlich die praktische Orientierung des Buches. Es enthält neben den theoretischen Überlegungen eine Fülle von Beispielen, an denen die Bedeutung von Träumen für die Seelsorge veranschaulicht und erläutert wird.
Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung!
Leipzig, im September 2019 Prof. Dr. Peter Zimmerling
Zur Einführung
Wie kommt ein Pfarrer dazu, sich intensiver mit Träumen zu befassen?
Die nächtlichen Gebilde beschäftigen mich inzwischen seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten. Zum ersten Mal habe ich den seelsorglichen Umgang mit Träumen im Mai 1982 erlebt. Damals nahm ich an einer Seelsorgegruppe des Ichthys-Werkes in Görwihl im Südschwarzwald unter der Leitung von Christa Weber und Christoph Häselbarth teil. Nachdem die einzelnen Teilnehmenden beim Frühstück von ihrem Befinden erzählt hatten, konnten sie ihre Träume der zurückliegenden Nacht einbringen. In der Gruppe wurde dann über die Bedeutung der Träume gesprochen. Diese Traumgespräche waren für mich so eindrücklich, dass ich noch heute den einen oder anderen meiner Träume mit seiner Deutung präsent habe.
In den folgenden Jahren habe ich immer wieder an solchen Seelsorgegruppen teilgenommen oder auch Traumgespräche im Rahmen von Einzelbegleitung durch Christa Weber beim Ichthys-Werk erlebt. Das war ebenso hilfreich wie beeindruckend. Es hat mich immer wieder zum Staunen gebracht, wie treffend sich die Seele in ihren Symbolen und Handlungssequenzen äußert. Häufig hatte ich den Eindruck: Die Traumbilder sind so präzise, so treffend, wie sie mein Verstand oder meine Fantasie nie auch nur annähernd konstruieren und konstellieren könnte. Immer wieder habe ich mich durch meine Traumbilder „auf frischer Tat ertappt“ gefühlt.
Bei dieser Art der Traumdeutung habe ich hautnah erlebt, wie die Seele im Traum hoch intuitiv arbeitet und was für ein hoch intuitives Geschehen die Deutung und Bearbeitung von Träumen ist. Ein Traum kann nicht mithilfe eines Wörterbuches, das lexikalische Deutungen gibt, erschlossen werden. Das wird uns noch im Laufe dieses Buches beschäftigen. Aber mir wurde auch deutlich, dass Traumdeutung etwas anderes als Willkür oder Beliebigkeit ist. Ich wollte Zusammenhänge entdecken und verstehen lernen, die lehrmäßig in der psychologischen Forschung vertreten werden, und fing an, mich mit psychologischer Fachliteratur zur Frage des Umgangs mit Träumen zu beschäftigen. Dabei wurde mir bald vor Augen geführt, wie vielfältig sich die vertretenen