Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender. Sandra Bollenbacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Bollenbacher
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347143609
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bewusst. Und mir war es auch bewusst, dass es ihm vermutlich bewusst war. Außerdem hakte er in letzter Zeit immer öfter nach, wenn ich mal wieder meine zehn Minuten hatte, in denen ich zickig wurde und ihn grundlos anblaffte. Okay, für mich gab es einen Grund, so sinnlos er auch war. Aber er wusste davon ja nichts. Dennoch hatte ich das Gefühl, er wollte etwas aus mir herauskitzeln. Ein Geständnis.

      Irgendwann war es dann so weit, dass er danach ziemlich sauer auf mich war. Und es tat mir leid. Ich wollte nicht, dass er sauer auf mich war. Schon gar nicht wegen so einer Minilappalie. Ich vergrub mich mal wieder in meinem Kissen und heulte. Ich wollte mich entschuldigen, doch wusste nicht, wie. Er wollte wissen, warum ich denn so reagierte, und ich wusste keine Erklärung außer der einen.

      Letztendlich entschloss ich mich dazu – mal wieder: Ich wollte es ihm sagen. Aber wie? Per E-Mail oder WhatsApp war mir zu unpersönlich. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb einen – leider ebenso unpersönlichen – Brief. Ich war so feige. Und ich hatte Angst. Ich wollte bei ihm vorbeifahren und ihm den Brief in die Hand drücken, damit es wenigstens eine kleine persönliche Note bekam. Ich würde es sicher eh nicht tun, da war ich mir sicher. Aber mein Unterbewusstsein ließ mich zittern. Kaum dass ich den Brief fertig und noch einmal gelesen hatte, zitterte ich am ganzen Leib. Und es hörte nicht auf, während ich mir Jacke und Schuhe anzog, den Autoschlüssel griff und den Brief einsteckte. Sogar beim Autofahren zitterte ich weiter und der Weg zu ihm war noch nie so lang gewesen. Zumindest nicht mit dem Auto. Ich schaltete das Radio ein. Es lief »Gewinner« von Clueso. Als ich am Vorabend schon einmal darüber nachdachte, es ihm zu sagen, ging ich gerade ins Bad, wo meine Mutter vergessen hatte, das Radio auszuschalten. Da lief das gleiche Lied.

      Vor seinem Haus angekommen und ausgestiegen zitterte ich noch mehr und das nicht wegen des Schnees, der zu fallen begonnen hatte. Ich musste das in den Griff kriegen! So ging das nicht. Ich öffnete die Gartentür und atmete tief durch. Ich steuerte seine Haustür an und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Ich klopfte an sein Fenster und stellte erst dann fest, dass die Haustür offen stand. Egal. So musste ich wenigstens nicht noch reingehen, sondern er kam an die Tür. Das erleichterte mir das Gehen. Er kam raus und ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. Das Zittern hatte ich einigermaßen im Griff. Zumindest körperlich. Ich drückte ihm den Brief in die Hand und er fragte, warum ich hier sei und ob zu Fuß. Ich fasste meine Antworten kurz, da nun meine Stimme bebte und er das auf keinen Fall mitbekommen sollte, und war auch bei den letzten Worten schon wieder um die Ecke verschwunden. Ich musste weg. Ich musste ganz schnell weg!

      Ich wusste, dass es nicht passieren würde, aber insgeheim hoffte ich doch, dass er mir folgen würde. Also drehte ich mich zwei Mal heimlich um. Aber ich behielt recht. Leider …

      Die Gartentür wieder geschlossen und das Auto geöffnet, klingelte mein Handy. Ich setzte mich ins Auto und zog es mit zittrigen Händen hervor. Auf dem Display stand sein Name. Ich starrte es an. Ging ich ran? Ging ich nicht ran? Meine Stimme bebte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, falls ich überhaupt ein Wort herausbekommen würde. Und außerdem hatte ich das Gefühl, dass er eh nur fragen wollte, ob ich ihn verarschte. Das konnte ich mir sparen. Ich steckte das Handy also klingelnd wieder ein und startete den Motor. Ich fuhr los und drehte das Radio auf, während das Handy sich ausklingelte. Es lief immer noch Clueso. Ich hab’ mal ein Buch gelesen, in dem ging es um einen Mann, der entführt wurde. Er und sein Geiselnehmer fuhren quer durchs Land mit dem Auto und immer lief die passende Musik zur passenden Situation im Radio. Er glaubte nicht an Gott. Aber er glaubte trotzdem, dass Gott ein DJ sein musste. Daran musste ich in diesem Moment denken. Vor allem, als danach »Don’t speak« von No Doubt lief. Zufall? Schicksal? Ich schätze, ich glaube nicht ans Schicksal …

      Als das Lied endete, fuhr ich unsere Auffahrt rauf und stieg aus dem Auto. Ich zitterte immer noch. Aber nur leicht. Ich wusste, dass er mir in WhatsApp geschrieben haben musste, schließlich hatte ich gerade all meinen Mut zusammengenommen, um ihm etwas zu sagen, was mich schon sehr lange bedrückte. Und ich war nicht ans Telefon gegangen.

      Als ich mein Zimmer erreichte, versuchte ich so ruhig wie möglich zu sein. Ich zog mich langsam wieder um, ging noch einmal auf Toilette und las erst alle anderen Nachrichten, die ich in der Zwischenzeit bekommen hatte. Doch irgendwann musste ich ja lesen, was er geschrieben hatte. Und ich wollte es auch.

      Ich atmete also nochmal tief durch und tippte schließlich auf seinen Namen. Er hatte nur einen einzigen Satz geschrieben:

      »Na endlich sprichst du es mal aus.«

      Sandra Bollenbacher

      DiE PUZZLEBANDE

      (TEiL 1)

      Langsam lösten sich die schwarzen Wolken auf, die sich in der Nacht über den Mond geschoben und ihre schwere Last in einem kräftigen Regenschauer abgeworfen hatten, und bald würden von den grauen Schleiern, die jetzt über den dunklen Himmel wehten, nur noch ein paar weiße Wolkenfetzen zu sehen sein. Einige große Kolkraben pickten im feuchten Gras nach den dicken Regenwürmern und Insekten, die aus ihren unterirdischen Labyrinthen, Höhlen und Löchern gekrochen waren, und auf einem Dach zwitscherte sogar schon eine Amsel, die sich ebenfalls über das ungewöhnlich milde Dezemberwetter an diesem frühen Morgen zu freuen schien.

      Katrin kam eine noch menschenleere Straße des verschlafenen Vorstädtchens hinunter gejoggt. Ihre Turnschuhe quietschten leise auf dem nassen Asphalt und sie wäre beinahe auf einer Plastikverpackung, die jemand achtlos fortgeschmissen hatte, ausgerutscht. Auf den letzten Metern übermannte sie jedes Mal die Müdigkeit und ihre Achtsamkeit ließ nach. So auch an diesem Morgen, denn fast wäre sie dem Nachbarn Schulze in die Arme gelaufen, der seinen Hund Benno Gassi führte, wäre der alte Rüde nicht laut bellend einem verstörten Raben hinterher um die Ecke einer hohen Hecke gefetzt. Erschrocken sprang Katrin über das niedrige Mäuerchen eines vorbildlich gepflegten Vorgartens und kauerte mit bis zum Hals klopfendem Herzen auf allen Vieren hinter einem Busch, bis Herr Schulze und Benno außer Sicht- und Hörweite waren. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie viel zu spät dran war. In zehn Minuten würde der Wecker ihrer Eltern klingeln und spätestens um sieben Uhr würde ihre Mutter an ihre Tür klopfen, um auch Katrin zu wecken.

      Die letzten zweihundert Meter legte sie im Eiltempo zurück und hechtete über das alte Gartentürchen, das sich bei feuchtem Wetter so stark verzog, dass es nur mit viel Kraft und unter ohrenbetäubendem Quietschen zu öffnen war. Auf Zehenspitzen folgte sie dem kurzen Weg zum Haus und hüpfte dann von einem großen Sandstein zum nächsten über das leere Beet, das unter ihrem Fenster lag, um keine verräterischen Fußabdrücke in der nassen Erde zu hinterlassen. Vorsichtig stieß sie das Fenster auf und zog sich hoch. Beinahe wäre sie wieder nach unten gestürzt, als ihre linke Hand auf dem glitschigen Fenstersims ausrutschte und sie sich an der rauen Hauswand den Daumen aufkratzte, doch sie biss die Zähne zusammen und hievte sich mit einem leisen Stöhnen ins dunkle Zimmer. Eine Minute gönnte sie sich, in der sie bewegungslos bäuchlings auf dem weichen Teppich lag und lauschte. Durch das geöffnete Fenster drang hier und da das Startgeräusch eines Automotors, der Wind raschelte sanft in den Zweigen der großen Tanne, die im Garten der Nachbarn stand, doch im Haus selbst war es beruhigend still.

      Am liebsten wäre Katrin direkt hier auf dem Boden in ihren verschwitzten und dreckigen Klamotten eingeschlafen. Gähnend stand sie auf, kickte die nassen Turnschuhe in eine Ecke, schälte sich aus den schwarzen Leggings und dem schwarzen Sweatshirt, den Socken und dem BH, verstaute alles in einer Plastiktüte, die sie unter dem Bett versteckte, zog sich das T-Shirt über den Kopf, das einmal ihrem Vater gehört hatte und die Tourdaten seiner Lieblings-Heavy-Metal-Band in mittlerweile kaum mehr leserlichen, verblassten Buchstaben verkündete, und krabbelte ins Bett. Am Anfang war sie nach diesen nächtlichen Ausflügen immer mit wild umherrasenden Gedanken dagelegen, doch mittlerweile fiel sie direkt ins Reich der Träume, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.

      Der Weckruf ihrer Mutter kam wie immer viel zu früh. Katrin blinzelte in das graue Morgenlicht und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen, um noch ein paar Minuten weiter zu schlummern, wenn nicht dabei ein stechender Schmerz in ihren Daumen geschossen wäre, welcher sie endgültig aus dem Schlaf riss.