Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender. Sandra Bollenbacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Bollenbacher
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347143609
Скачать книгу
Hand nach ihrer Tochter aus.

      »Wir auch, Maus. Wir auch …«, antwortet Pepe und wieder kullert eine Träne seine Wange hinunter. Tobias legt seinen Arm tröstend auf den seines Bruders.

      Ella starrt stumm auf den Tisch. Was ist hier los? Sie führt eine Gabel voll Kartoffelbrei in ihren Mund, aber sie schmeckt nichts. Kein Geschmack, keine Wärme. Was verdammt nochmal ist jetzt passiert? Ist der Kartoffelbrei so schnell kalt geworden? Sie nimmt noch einen Happen, aber erneut kein Empfinden, kein Geschmack. Das Gleiche probiert sie mit der Ente und dem Rotkraut. Nichts.

      »Pepe?«, fragt sie nervös und sieht ihren Mann an, doch der ignoriert sie. »Tina? Leo?« Auch ihre Kinder reagieren nicht. »Tobias! Erna, Bernhard!« Ellas Stimme klingt zittrig. Keiner reagiert.

      Ella schluckt und erhebt sich. Irgendetwas läuft hier verdammt schief. Vielleicht träumt sie? Ja, das muss es sein. Sie entfernt sich langsam vom Esstisch und kneift sich. Einmal, zweimal … Sie spürt nichts. Ella lässt sich auf die Couch sinken und vergräbt den Kopf in ihren Händen.

      Eine lange Weile sitzt sie so da, ehe sie endlich wieder aufsteht. Ihre Familie ist fertig mit dem Essen und die Kinder hängen die Weihnachtskugel ihrer Mutter gemeinsam an den Baum.

      »Der Engel ist Mama!«, verkündet Leo und deutet auf den kleinen Glitzerengel auf Ellas Kugel.

      »Kann sie uns sehen?«, fragt Tina und schaut ihren Papa mit großen Kulleraugen an.

      »Ja, mein Schatz. Mama kann uns sehen. Und sie ist bei uns …« Pepe dreht sich um und blickt Ella direkt in die Augen, was ihr kurz einen Hoffnungsschimmer gibt, aber sein Blick wird traurig und er dreht sich wieder um. Einen Augenblick lang schweigen alle, dann versucht Bernhard, sie ein bisschen aufzuheitern.

      Kurz danach klopft es an der Tür. Der Weihnachtsmann. Eigentlich nur Onkel Holger, der sich jedes Jahr verkleidet, aber für die Kinder ist es der Weihnachtsmann.

      Halb lächelnd, halb traurig beobachtet Ella, wie die Kinder singen und Gedichte vortragen und Onkel Holger Geschenke an alle verteilt. Jetzt sind wieder alle glücklich und die traurigen Blicke von eben verschwunden. Außer aus Pepes Augen.

      Träume ich?, fragt Ella sich wieder und blickt in den Spiegel über dem Wohnzimmerkamin. Doch sie kann nichts sehen. Nur einen ganz blassen Umriss ihres Körpers, wenn sie genau hinschaut. Nein! Sie muss träumen! Das kann nicht wahr sein!

      Die Bescherung ist zu Ende. Der Weihnachtsmann verabschiedet sich und die Kinder packen fleißig aus. Ella sieht ihnen zu, bis Onkel Holger vor ihr stehen bleibt. »Du hast dein Geschenk schon bekommen«, sagt er zu ihr.

      Irritiert sieht Ella sich um. »Du … du kannst mich sehen?«, fragt sie überrascht.

      Onkel Holger nickt und lächelt. »Sie wissen, dass du hier bist«, sagt er mit einer tiefen Stimme. Sie wusste gar nicht, dass Onkel Holger so tief sprechen kann. Es klingt gar nicht nach ihm. »Lass los, Ella«, sagt er sanft. »Lass los und pack dein Geschenk aus.«

      »Träume ich?«, fragt Ella voller Hoffnung.

      Onkel Holger lächelt liebevoll. »In gewisser Weise ja. Du träumst … für immer.«

      Mit großen Augen schaut Ella auf ihre Familie. Keiner hat mitbekommen, dass Onkel Holger sie gesehen hat. Mit ihr geredet hat! Sie dreht sich wieder zu ihm um, doch er ist verschwunden.

      Es ist also wahr, denkt Ella und holt ihr Geschenk. Die Schrift glitzert und ist rot, auf grünem Papier. Vorsichtig wickelt sie es aus und in ihre Hand fällt eine kleine Spieluhr in Form einer Schneekugel. Sie zeigt ihr Haus. Es brennen Lichter in den Fenstern und Schnee rieselt auf das Dach, ohne dass Ella die Kugel geschüttelt hätte. Langsam zieht sie die Kurbel auf und es ertönt »Carol of the bells«.

      Im Wohnzimmer hält jeder den Atem an und starrt zu Ella – auf ihre Hand. Ella blickt zu ihrer Familie zurück. Keiner scheint sie zu sehen. Aber hören sie die Melodie? Ella sieht, wie Pepe fassungslos in den Spiegel schaut. Sie schaut ebenfalls zum Spiegel und da sieht er sie an, direkt in ihre Augen, und streckt die Hand aus. Kann er sie sehen? Seine Lippen formen ihren Namen und ein Lächeln breitet sich darauf aus.

      Ella spürt, wie etwas mit ihr passiert. Ein Kribbeln. Sie löst sich auf und ihr Spiegelbild verschwindet komplett. Ihr fällt die Spieluhr aus der Hand und sie sieht, wie Tina sofort darauf zuläuft, um sie aufzuheben.

      Ellas körperloses Ich entschwebt und ihre Familie wird kleiner. Pepe scheint ihr hinterherzuschauen.

      »Ich liebe euch!«, ruft sie und kurz bevor sie verschwindet, hört sie Pepe sagen: »Ich liebe dich auch.«

      Sandra Bollenbacher

      RiCHTERin EMiLiA

      Emilia hatte schon immer einen großen Sinn für Gerechtigkeit, weshalb sie seit der ersten Klasse davon träumte, Richterin zu werden. Während all ihre Freundinnen noch mit Puppen spielten, saß Emilia hinter ihrem kleinen Richterpult (Papas alter Schreibtisch) – Justitia (Barbie) mit ihrer Waage zu Emilias Linken, ein kleiner Hammer aus Schaumstoff zu ihrer Rechten – und verhängte Urteile über imaginäre Verbrecher, die imaginäre Verbrechen verbrochen hatten. Der Verlauf ihres weiteren Lebens stand fest: Sie würde aufs Gymnasium gehen, nach dem Abitur würde sie Jura studieren, dann eine steile Karriere als Staatsanwältin hinlegen und schließlich das ehrenvolle Amt der obersten Richterin des obersten Gerichts antreten. Ob die weiße Ringellöckchenperücke wohl Pflicht war?

      Emilias Eltern hatten nichts gegen die außergewöhnlichen Spiele und Fantasien ihrer Tochter. Ehrgeiz war schließlich nie verkehrt und es gab bei Weitem Schlimmeres, als eine Juristin in der Familie zu haben. Nur als Emilia, gerade neun Jahre alt geworden, verkündete, sie wolle von nun an nur noch mit »Euer Ehren« angesprochen werden, machten ihre Eltern nicht mit. Als äußerst angenehm empfanden sie es allerdings, wenn Emilia sich nach grobem Ungehorsam oder kurzzeitiger Bösartigkeit selbst zu Fernsehverbot oder Brokkoliessen verurteilte.

      Zu Weihnachten hatte Emilia sich keine Geschenke gewünscht. Stattdessen hatte sie ihre Eltern so lange angebettelt, bis diese eingestimmt hatten, sie zu einer öffentlichen Verhandlung im Gericht mitzunehmen.

      Aufgeregt hibbelte Emilia auf dem Rücksitz herum. Die Fahrt dauerte viel zu lange, doch sie konnte sich nicht einmal auf ihr Lieblingsbuch – »Was ist was: Das deutsche Rechtssystem« – konzentrieren, das sie seitihrem Geburtstag im November bereits 53-mal gelesen hatte. Endlich erreichten sie das große, alte Gebäude aus rotbraunem Sandstein. Die Fenster waren wie bei einem Gefängnis mit dicken Eisenstangen gesichert und man kam nur zu dem Eingang im Innenhof, indem man unter einer rot-weißgestreiften Schranke und durch ein schweres, drei Meter hohes Tor hindurch sowie über eine kleine Brücke fuhr. Das alles konnten sie freilich erst, nachdem der hinter Panzerglas sitzende Pförtner die Personalausweise von Mama und Papa genauestens begutachtet hatte.

      Emilia klebte mit dem Gesicht an der Scheibe und sog alles auf, was sie sah, doch das war leider nicht viel: Der Innenhof war schrecklich unspektakulär und nirgends liefen Anwälte oder Richter herum. Nicht einmal einem einzigen Sträfling begegneten sie, als sie den langen, nach Gummischuhen riechenden Flur entlanggingen. Papa redete leise mit der Frau, die sie am Auto in Empfang genommen hatte, doch auch diese war auf keinen Fall eine Anwältin oder gar Richterin, das erkannte Emilia sofort.

      Als sie vor einer breiten Eichentür stoppten, nahm Mama Emilia an die Hand. Emilia lächelte nervös. Gleich würde sie einen echten Gerichtssaal betreten mit einem echten Richter und echten Anwälten und einem echten Angeklagten! Echte Zeugen, echte Sachverständige, echte Gerichtsdiener! Ihre Augen leuchteten glücklich und sie schob sich sogleich an Papas Beinen vorbei in den Raum, als die fremde Frau die Tür öffnete.

      »Oh«, entfuhr es ihr enttäuscht.

      Der Gerichtssaal hatte nichts von dem, was sie im Fernsehen gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Er sah vielmehr ihrem Klassenzimmer nicht unähnlich, nur gab es statt der Tafel einen Flachbildschirm, die Tische waren zu einer großen Tischfläche zusammengeschoben