Resümierend zum Auf- und Ausbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland bis etwa in die 1970er Jahre rekapituliert Manfred G. Schmidt52 dessen Antriebskräfte: Zunächst ist die Ausgangssituation der Bewältigung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu beachten, dann das hohe Wirtschaftswachstum, das die Finanzierung des Sozialstaates nachhaltig erleichterte. Des Weiteren beförderte die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach sozialen Leistungen, die sich nicht nur in der Alterssicherung, sondern ebenfalls kostensteigernd in der Gesundheitsversorgung bemerkbar gemacht haben. Schließlich sei mit Nachdruck der Auf- und Ausbau durch politische Entscheidungen hervorzuheben und hierbei auf den Parteienwettbewerb um die Wählerstimmen bei den Wahlen zu verweisen, wobei grundsätzlich die Erlangung von Herrschaftslegitimität mittels Sozialpolitik eine wesentliche Rolle spielte.
Auch einflussreiche Wirtschaftsverbände stellten eine Machtressource des Sozialstaates dar (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände). Ebenso fungierte als Antriebskraft das Politikerbe, d.h. es wurden Entscheidungen auf der Basis früherer Festlegungen getroffen, die sich prägend auswirkten. Damit ist der Komplex der Pfadabhängigkeit impliziert, denn vielfach dominierten herkömmliche Lösungen, wenngleich diese als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Über die weiteren Tendenzen und Entwicklungsrichtungen des deutschen Sozialstaats vor allem nach 2000 wird unten im Kapitel V ein ausführliches Fazit gezogen.
4 Hans Günter Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 139f.; zum Folgenden auch Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart/München 2003, S. 169-190; Lutz Leisering, Der deutsche Sozialstaat, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 182ff.
5 Vgl. zur Entwicklung der Sozialpolitik in der DDR Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 224-248. Da das westdeutsche System der sozialen Sicherung bzw. der Sozialpolitik nahezu identisch auch im wiedervereinigten Deutschland bestehen blieb, wird auf die Entwicklungsgeschichte der Sozialpolitik in der DDR verzichtet.
6 Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 23f. und S. 23-42 (zum Folgenden); Manfred G. Schmidt, Der Deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 38f.; vgl. zu den Phasen des bundesdeutschen Sozialstaats auch Lutz Leisering, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialmodells, in: Hans-Peter Schwarz (Koord.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 427ff.
7 Andreas Meusch, Sozialpolitik, in: Werner Weidenfeld/Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1999, S. 695 und ebenda, S. 698f. (zum Folgenden).
8 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 258 und S. 259 (das folgende Zitat); zum Folgenden auch ders., Gesellschaftsgeschichte, S. 257-267.
9 Metzler, Sozialstaat, S. 175.
10 Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens, Teil II, 4. Abschnitt, § 23 (Gesetz No. 63 vom 27. Juni 1948) zit. nach Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 194 und ebenda, S. 191 (das folgende Zitat).
11 Vgl. zur Rezeption des Beveridge-Plans in der deutschen Nachkriegszeit Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition: Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 43-70.
12 Meusch, Sozialpolitik, S. 696.
13 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 195; ebenda, S. 195ff. (zum Folgenden); Schmidt, Sozialstaat, S. 39f.
14 Vgl. Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte: Die Rentenreform 1957, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 71-85.
15 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 262.
16 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 19912, S. 159.
17 Hockerts, Einleitung, S. 12 und ders., Rente, S. 71 (der folgende Begriff).
18 Thomas Ebert, Die Zukunft des Generationenvertrags, Bonn 2018, S. 46.
19 Vgl. Hans Günter Hockerts, Im Zenit der staatlichen Wohlfahrtsproduktion: Die Reformära 1966-1974, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 181-201.
20 Hockerts, Einleitung, S. 13.
21 Hockerts, Zenit, S. 185.
22 Schmidt, Sozialstaat, S. 46.
23 Vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 150-180, S. 178 (das folgende Zitat).
24 Vgl. auch Gerhard Bosch, Das deutsche Sozialmodell in der Krise. Die Entwicklung vom inklusiven zum exklusiven Bismarck’schen Sozialstaat (=IAQ-Forschung 2015/02), S. 6f.
25 Hockerts, Zenit, S. 187.
26 Leisering, Sozialstaat, S. 182f.
27 Hockerts, Metamorphosen, S. 145 und Peter Starke, Krisen und Krisenbewältigung im deutschen Sozialstaat: Von der Ölkrise zur Finanzkrise von 2008 (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 02/2015), S. 13f. Nach Meusch, Sozialpolitik, S. 699, war der „wichtigste Bruch in der Sozialpolitik der Bundesrepublik“ kein Regierungswechsel, „sondern ist die Konsequenz des Ölpreisschocks des Jahres 1973“; Schmidt, Sozialstaat, S. 40f.