Hartz I und II sollten die Arbeitsvermittlung und Eingliederung von Erwerbslosen durch u.a. Personalservice-Agenturen, Bildungsgutscheine, Ich-AGs, Mini und Midi-Jobs reformieren. Hartz III beinhaltete die grundsätzliche Neuorganisation und Umbenennung der bisherigen Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit mit den Agenturen für Arbeit anstelle der bisherigen Arbeitsämter. Hartz IV brachte die Einführung einer einheitlichen, niedrigeren, mit Bedürftigkeitsprüfung verbundenen Grundsicherung durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und das neue Arbeitslosengeld II sowie u.a. sog. Ein-Euro-Jobs. Als zentrale Leitlinie der Reformen fungierte ein „Fördern und Fordern“, was mehr Druck auf Erwerbslose zur Aufnahme einer Arbeit beinhaltete, den Berufsschutz bei anhaltender Arbeitslosigkeit erheblich minderte, den Einsatz von Vermögen bis auf kleine Freibeträge verlangte und einen wachsenden Niedriglohnbereich und Minijobs anvisierte. Damit war für ältere Arbeitnehmer im Falle einer Arbeitslosigkeit die Gefahr verbunden, erhebliche Einschnitte hinnehmen zu müssen, so wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I je nach Lebensalter von bisher maximal 32 Monaten auf nunmehr höchstens 18 Monaten verkürzt.
Der andere Baustein der rot-grünen Reformen betraf die Alterssicherung, nämlich zum einen die sog. Riesterrente (2001) als private und staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge und das Nachhaltigkeitsgesetz (2004), das nunmehr das Verhältnis der Rentner zur Anzahl der Beitragszahler in Rechnung stellte.42 Damit wurde zumindest partiell von der 1957 eingeführten Rentendynamisierung und dem Prinzip der Lebensstandardsicherung abgewichen. Zielvorgabe war nunmehr die Beitragsstabilität. Das Rentenniveau wurde abgesenkt und zu dessen Kompensation die private Altersvorsorge in Form der kapitalbasierten, jedoch freiwilligen Riesterrente implementiert. Diese auch aufgrund massiver Lobbyarbeit der Finanzindustrie zustande gekommene private Altersvorsorge stellte „eine tiefgreifende Zäsur in der Sozialstaatsgeschichte der Bundesrepublik“ dar.
Als wesentliches Argument für diese Reform in der Alterssicherung fungierte der demographische Faktor, zum einen gekennzeichnet durch einen massiven Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1975, der bis in die Gegenwart anhält und zum anderen durch eine gleichzeitig älter werdende Bevölkerung. Damit eng verbunden begannen Diskussionen über die Möglichkeit, durch Kapitalbildungen das bisher ausschließliche Finanzierungssystem des Umlageverfahrens zu ergänzen. 2007 schließlich beschloss die Große Koalition die schrittweise Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029.43
Die Alterssicherung war im Übrigen bereits während der Kanzlerschaft Helmut Kohls in den 1990er Jahren ein Reformbereich gewesen. Eine 1992 in Kraft getretene Rentenreform berücksichtigte erstmals demographische Gesichtspunkte und stellte – um einen deutlichen Beitragsanstieg in der Zukunft zu vermeiden – die Rentenanpassung von der Bruttolohn- zur Nettolohnorientierung um. Des Weiteren hob man schrittweise die Altersgrenzen an. Letzteres hatte Abschläge zur Folge bei vorzeitigem Renteneintritt, aber noch galt das Prinzip der Rente als Lebensstandardsicherung. Die Rentenreformdiskussion ist neben der demographischen Entwicklung auf die in den 1990er Jahren sich verstärkende Lohnnebenkostenfrage vor dem Hintergrund einer intensiveren Standortdebatte im Kontext der sich beschleunigenden Globalisierung zu verankern.
Die im Herbst 2008 ausgebrochene Finanzkrise erfasste auch die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig, 2009 kam es mit einem Minuswachstum von fünf Prozent zum schwersten Einbruch seit 1945.44 Zur Bekämpfung der Krise verabschiedete die Bundesregierung jeweils unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel vier sog. Konjunkturpakete und ein Sparpaket, wobei hier nur die sozialpolitischen Implikationen interessieren.45 Die Pakete beinhalteten Beitragssenkungen bei der Arbeitslosen- und Krankenversicherung, eine bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, Erhöhungen von Kindergeld und Kinderfreibeträgen, mehr Arbeitsvermittlerstellen bei der Bundesagentur für Arbeit und vor allem die Ausweitung der Kurzarbeit sowie die Erstattung von Arbeitgeberbeiträgen bei Kurzarbeit. Diese sozialpolitischen Maßnahmen standen somit „ganz im Zeichen der Kurzarbeit“, die zum „Flaggschiff der deutschen Krisenreaktion“ avancierte. Kurzarbeit verhinderte durch vorübergehende Produktionsanpassungen der Unternehmen das Auftreten von Massenentlassungen und erklärte den Erfolg der deutschen Beschäftigungspolitik in der großen Krise. Insgesamt gesehen nahmen die sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung dieser großen Krise einen hohen Stellenwert ein, denn gut die Hälfte der implementierten Bekämpfungsmaßnahmen betrafen in einem weiteren Sinn Sozialpolitik.
Im Jahre 2010 allerdings wurde diese antizyklische Politik der Bundesregierung durch „das größte Ausgabenkürzungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ abrupt beendet. Es beinhaltete Subventionsabbau, Kürzungen bei der Bundeswehr, beim Elterngeld (komplette Streichung bei Langzeitarbeitslosen) und die Abschaffung des bis dahin gewährten Übergangsgeldes für Arbeitslose, die keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld I mehr besaßen. Die Sozialpolitik der ersten Regierung Merkel habe sich insgesamt „durch viel Kontinuität“46 ausgezeichnet und sei einerseits expansiv gewesen, z.B. beim Elterngeld oder der Einführung weiterer Mindestlöhne47, andererseits sei sie Zwängen zum Kompromiss ausgesetzt gewesen (Gesundheitsfonds).48
Nachdem die erste Große Koalition mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel schon seit 2007 „moderate Korrekturen“49 der zum Teil einschneidenden Reformpolitik der vorausgegangenen Jahre in die Wege geleitet hatte, setzte die zweite Große Koalition Merkel seit 2013 einige sozialpolitische Erweiterungen durch. So bestand ab 2014 für eine bestimmte Altersgruppe die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren – einschließlich von Zeiten der Arbeitslosigkeit – mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Dieses Zugangsalter wurde entsprechend dem allgemeinen Renteneintrittsalter schrittweise auf 65 Jahre erhöht. Des Weiteren wurde eine „Mütterrente“ eingeführt, die die Kindererziehung besser anerkennen sollte. Über die 1992 getroffenen Regelungen hinausgehend erhalten – in der Regel Mütter – für vor 1992 geborene Kinder einen zusätzlichen Entgeltpunkt in der Alterssicherung gutgeschrieben, was eine höhere Rente zur Folge hat.
Schließlich kam es nach langen Debatten zur endgültigen Einführung eines staatlichen, flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns, wenngleich Minderjährige ohne Berufsausbildung bzw. Schüler, Auszubildende, Pflichtpraktikanten, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihres Wiedereinstiegs, Ehrenamtliche und Zeitungszusteller davon ausgenommen wurden. Weiterhin erfolgte eine Ausweitung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und familienpolitische Ergänzungen durch das Elterngeld plus sowie das umstrittene Betreuungsgeld.
Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben in Deutschland geworfen, wobei die Epoche nach der Wiedervereinigung bzw. nach der Jahrhundertwende eine genauere Betrachtung unten im Abschnitt IV. 9 erfährt. Es werden dabei bis zum Ende der Regierungszeit Bundeskanzler Helmut Kohls, die den Anfang der hier interessierenden Epoche bildet, vier Phasen unterschieden:50
Für den Zeitraum von 1949 bis 1975 spricht man von einer Ausbauphase mit einer drastischen Steigerung der Sozialleistungsquote, die Jahre von 1975 bis 1990 werden als eine Phase der Konsolidierung mit einer steigenden Arbeitslosigkeit charakterisiert und von 1990 bis 1996 dominierte die deutsche Einheit mit der Übertragung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die neuen Bundesländer. Seit 1997 begann noch eine von der damaligen Regierung Kohl eingeleitete Rückkehr zur Konsolidierung. Die Abfederung des enormen wirtschaftlichen Umbruchs in der ehemaligen DDR war verantwortlich für die „erneute sprunghafte Zunahme des Sozialbudgets, d.h. der Gesamtausgaben