9.3 Sozialleistungen gemäß der Institution
9.5 Der deutsche Sozialstaat im (europäischen) Vergleich
V. Zusammenfassung und Fazit: Eine Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende
Chronologie zur Sozialpolitik 1998 bis 2015
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Einleitung
Im Bundestagswahlkampf 2017 nahm die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft auch vor dem Hintergrund der Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderung einen wesentlichen Raum ein. Über das Ausmaß einer propagierten, bestehenden Gerechtigkeitslücke und zur Frage, ob die Armut in Deutschland in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen habe, hat sich eine parteipolitisch übergreifende Auseinandersetzung entwickelt. Die hier vorliegende Arbeit ist auch aufgrund dieser aktuellen Kontroversen entstanden, wenngleich sie darüber hinausgehend einen Beitrag zur Erforschung des bundesdeutschen Sozialstaates bietet, der als ein grundlegendes Element unserer demokratischen Verfassungsordnung betrachtet wird.
Die Untersuchung verfolgt demnach das zugegebenermaßen anspruchsvolle Ziel, eine empirisch-quantitative Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Wiedervereinigung bzw. seit der Jahrhundertwende zu liefern, um ein adäquates Urteil über den Sozialstaat zu ermöglichen, der im Übrigen als eine „kulturelle Errungenschaft“ Westeuropas (Franz-Xaver Kaufmann) „zu den größten Leistungen der europäischen Politischen Kultur im 20. Jahrhundert gehört“ (Hans-Ulrich Wehler).1 Dieser zeitgeschichtliche Ansatz bietet im Sinne einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte demnach eine „Problemgeschichte der Gegenwart“2 bzw. eine „Öffnung zu den Problemlagen unser Gegenwart“.
Den Kern des deutschen Sozialstaates bilden die Sozialversicherung sowie weitere sozialpolitische Leistungen, womit zugleich betont wird, die Thematik der Armut fungiert nur als ein Teilaspekt. Es dominiert demzufolge die staatliche Sozialpolitik. Zentraler Gegenstand ist also vereinfacht formuliert der „output“, d.h. der „Sozialstaat in action“. Es stehen somit seine Adressaten, Leistungen, Reformen und Finanzen (Ausgaben und Einnahmen) vorrangig seit der Jahrhundertwende im Mittelpunkt. Der Schwerpunkt liegt auf einer quantitativen Bilanz quasi aus einer „Vogelperspektive“, so dass qualitative Veränderungen bzw. gegebenenfalls Innovationen in einzelnen Teilbereichen nur bedingt erfasst werden können.
Neben der knappen, deskriptiven Skizzierung der wesentlichen Elemente und Leistungen des deutschen Sozialstaates wird im abschließenden Fazit die Frage aufgeworfen, ob dieser in der Phase nach dem Boom einen Abbau oder lediglich einen Umbau bzw. möglicherweise sogar einen Ausbau erlebte. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen erscheint es auch reizvoll, zumindest punktuell zu prüfen, inwieweit der Entwicklungsverlauf des deutschen Sozialstaates mit bestehenden politischen Konstellationen korrespondiert, will sagen, welche Regierungen und politische Mehrheiten etwaige Änderungen oder – positiver formuliert – Innovationen implementierten.
Zwar ist dem Verfasser der Arbeit bewusst, dass im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, die Alterssicherung oder die Einkommens- und Vermö gensverteilung auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung noch erhebliche Divergenzen zwischen den sog. neuen Bundesländern und der alten Bundesrepublik bestehen, dennoch bleibt das hier anvisierte Ziel ein Gesamtüberblick über Deutschland.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einem knappen historischen Abriss zum deutschen Sozialstaat seit 1949 gehen wir kurz auf dessen Begrifflichkeit und wesentliche Strukturprinzipien ein. Anschließend soll ein Überblick über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland den Rahmen des deutschen Sozialstaates umreißen. Im Hauptteil beschäftigen wir uns im Einzelnen mit den wesentlichen Zweigen des bundesdeutschen Sozialstaates, also seine Adressaten, Leistungen und die finanziellen Aspekte. Dieser Hauptteil schließt mit einem Überblick zum gesamten Sozialbudget ab. Ein umfangreiches Schlusskapitel fasst die Ergebnisse des Hauptteils zusammen und diskutiert die erkenntnisleitende Frage, inwieweit von einem Abbau oder Umbau des deutschen Sozialstaats in einer erweiterten zeitlichen Perspektive „nach dem Boom“ tatsächlich gesprochen werden kann.
Quellengrundlage der Untersuchung bilden die Sozialberichte der Bundesregierung, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahre 1969 mit der Vorlage des ersten Sozialbudgets begannen und ein Jahr später um einen Berichtsteil erweitert wurden, in dem die Bundesregierung ihre sozialpolitischen Ziele und die „übergreifenden Zusammenhänge zu anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik aufzeigt“3. Dieser neue Sozialbericht – bis dahin als Sozialbudget bezeichnet – ersetzte den bisherigen Rentenbericht, der bis dato als Sozialbericht bezeichnet worden war und seitdem als Rentenanpassungsbericht bzw. heute als Rentenversicherungsbericht erscheint und über die Finanzen der Rentenversicherung informiert. Die neue Sozialberichterstattung erfolgte zunächst bis 1975 im jährlichen Rhythmus, ab 1976 alle zwei Jahre, ab 1986 alle drei Jahre, ab 1990 alle vier Jahre, für die Jahre 1993 und 2005 wurde wieder eine dreijährige Erscheinung praktiziert im Sinne einer möglichst zeitnahen Berichterstattung über die Ausweitung der sozialen Sicherungssysteme auf die neuen Bundesländer bzw. 2005 wegen der Verkürzung der 15. Legislaturperiode des Bundestags.
Die Sozialberichte bestehen aus zwei Teilen: Teil A bringt einen umfassenden Überblick über die Maßnahmen der Gesellschafts- und Sozialpolitik, während der Teil B das Sozialbudget beinhaltet, in dem die Bundesregierung über den Umfang, die Struktur und den Entwicklungsverlauf der Einnahmen und Ausgaben informiert. Das Sozialbudget erscheint im Übrigen seit 1995 jeweils als Tabellenband in dem Jahr, in dem kein Sozialbericht veröffentlicht wird. Ergänzend wurden einige seit 1985 publizierten Datenreporte des Statistischen Bundesamtes sowie punktuell andere Quellen wie Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit oder die Teilhabeberichte über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen herangezogen.
Als Adressaten des Buches sind zunächst alle am Sozialstaat Interessierten angesprochen, sei es im Rahmen eines Studiums, wobei hier zunächst an die Studienangebote in den verschiedenen sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Berufen zu denken ist oder wenn sie sich bereits in einer beruflichen Tätigkeit befinden.
Hinweis: Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, wird im Folgenden sprachlich nicht zwischen männlicher und weiblicher Form unterschieden.
1 Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 11. Kaufmann spricht auch von „der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung als historischen Megatrend der europäischen Modernisierung“ (ebenda, S. 25); Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008, S. 267.
2 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz