Manfred Ehmer
Die Weisheit
der Dichter
Theosophie und Esoterik in
den Werken der Dichtkunst
Die Weisheit der Dichter
Copyright © Manfred Ehmer
1. Auflage 2017
2. Auflage 2020
Titelbild: Fantasy Images Pegasus HD
Quelle: https://wall.alphacoders.com
Abbildungen S. 108, 122, 140, 147, 154,
165, 170, 178: Wikipedia Commons
Verlag und Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Teil 5 der Reihe edition theophanie
ISBN: 978-3-347-00874-8 (Paperback)
ISBN: 978-3-347-00875-5 (Hardcover)
ISBN: 978-3-347-00876-2 (e-Book)
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Inhaltsverzeichnis
Der Dichter als Mittler zu den Göttern
Die neun Musen – ein Einweihungsweg
Die Veden – Urgestein altindischer Dichtung
Die Upanishaden – Perlen religiöser Poesie
Das Ramayana – Indiens großes Märchenepos
Der Sonnengesang des Pharao Echnaton
Gilgameschs Suche nach Unsterblichkeit
Homers Odyssee – ein Einweihungweg
Die Goldenen Verse des Pythagoras
Dantes Göttliche Komödie in geistiger Sicht
Das Vermächtnis der deutschen Klassiker
Kosmische Mystik in den Oden Klopstocks
Lessing – Freigeist und Esoteriker
William Blake – Dichter und Visionär
Goethes Gedicht 'Die Geheimnisse'
Schillers 'Theosophie des Julius'
Hölderlin – Prophet der Götter
Der magische Idealismus bei Novalis
Friedrich Rückert und die Weisheit des Ostens
Rabindranath Tagore – der Meisterdichter Indiens
William B. Yeats – Dichter, Mystiker und Theosoph
Das Mysterium der Sprache
Anmerkungen und Zitate
Der Dichter als Mittler
zu den Göttern
Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter, mit entblößtem Haupte zu stehn,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk, ins Lied gehüllt,
Die himmlische Gabe zu reichen.
Friedrich Hölderlin
In gewisser Weise gilt auch heute noch, dass der wahrhaftige Dichter ein Mittler ist zwischen Göttern und Menschen, Oben und Unten, Geist und Stoff. Das Mittleramt der Dichter liegt im Wesen der Dichtkunst selbst beschlossen. Wirkliche Dichtkunst ist nie bloß Handwerk, sondern Auftrag, Berufung. Platon (427–347 v. Chr.) sprach in seinem Dialog Phaidros von einem „poetischen Wahnsinn“, der – als ein Geschenk der Götter – den Menschen überkomme, ungerufen, um die Seele in einen verzückten Zustand zu erheben, in dem sie sich nur noch in Dichterworten zu äußern vermag. Allein dieser furor poeticus macht nach Platon das Wesen der Dichtkunst aus, nicht aber erlernte Kunst: „Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein zum Dichter werden, ein solcher ist selber uneingeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtkunst wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt.“1
Platon unterscheidet zwischen einem krankhaften Wahnsinn, der den von ihm Befallenen in den Untergang treibt, und einem heilsamen, ja göttlichen Wahnsinn, der die Menschen aus ihrer gewohnten irdischen Sphäre heraushebt und sie zu außerordentlichen Leistungen antreibt. Als Beispiele hierfür nennt Platon die Prophetinnen von Delphi, die Priesterinnen von Dodona und die Sibyllen – denn auch die Wahrsagekunst entspringt, wie die Dichtkunst, dem göttlichen Wahnsinn. Und ist der Dichter nicht auch ein „Wahrsager“, in dem Sinne, dass er die „Wahrheit“ spricht? Das Dichten, soweit es inspiriert ist aus der geistig-göttlichen Welt, gleicht einem hohepriesterlichen Amt. Ein solches Amt kann sich niemand selbst anmaßen; es kann nur von höherer Macht verliehen werden. Von Hesiod wird berichtet, wie er am Berg Helikon die Schafe hütend von den Musen zum Dichter berufen wurde – sie gaben ihm als Zeichen seiner neuen Hoheitsmacht einen Lorbeerzweig und den Rhapsodenstab, das Wahrzeichen des wandernden Sängers. „Ein Stab, das Zepter, gehört den Königen zu, aber auch Herolde, Priester und Propheten tragen ihn; das Gemeinsame ist das Zeichen höherer, gottgegebener, vom Menschen zu scheuender Vollmacht.“2
Wie jeder wahrhaft berufene Dichter ein Eingeweihter sein muss – denn nur ein solcher kann an die Sphäre der reinen Urworte heranreichen –, so stellt die Dichtkunst eigentlich ein Mysterium dar, dessen Vollzug das Wunder göttlich-menschlicher Kommunion vollbringt. Die Dichter der ältesten Zeit, Homer, Orpheus, die Verfasser der altindischen Veden, waren in der Tat Eingeweihte: Seher und Priester, angefüllt von göttlicher Schau. Und die ältesten Gedichte waren – Hymnen an die Götter! Bis auf den heutigen Tag schöpft die Dichtkunst aus der Kraft des Mythos; die Götter der alten Zeit bleiben noch lebendig, verwandeln sich zumindest in Schemen und Sinnbilder, die das Gefüge der Verse und Strophen geheimnisvoll durchweben. Was bedeutet es, Dichter zu sein in der heutigen, der modernen Zeit: in einer götterleeren, „entzauberten“ Welt? Können wir den verlorenen Zauber wieder zurückbringen? Zurück in diese seelenlose Welt? Sind wir nicht vielleicht gar Zauberer, Magier des Wortes? Ist nicht jeder Dichter im Grunde ein – Wortmagier?
Dichtung, Magie und Mythos sind eng miteinander verwandt; auch das Märchen stammt aus gleicher Quelle; sie alle sind vielleicht Erinnerungen an die goldenen Tage einer glücklichen, götterumsorgten Menschheits-Kindheit. So schrieb auch Novalis: „Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Es ist der Sinn für das Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende, das Zufällig-Notwendige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare. Kritik der Poesie ist ein Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, (…) ob etwas Poesie sei oder nicht. Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt – dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinn das Subjekt-Objekt vor: Gemüt und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, die Ewigkeit. Der Sinn für Poesie hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet – und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders.“3