»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian?«, rief sie aus. »Aber nein, das ist voller Staub. Ich muss es auskehren und in Ordnung bringen lassen, ehe Sie hinein können. Es ist nicht in dem Zustand, dass Sie es jetzt sehen können, gnädiger Herr, wahrhaftig nicht.«
»Es braucht nicht in Ordnung gebracht zu werden, Frau Leaf, ich brauche nur den Schlüssel.«
»Aber gnädiger Herr, Sie werden voller Spinnweben werden, wenn Sie hineingehn, es ist seit beinahe fünf Jahren nicht aufgemacht worden, seit Seine Gnaden gestorben sind.«
Er zuckte, als sein Großvater erwähnt wurde. Hass stieg in ihm auf, wenn er an ihn dachte. »Das macht nichts«, antwortete er. »Ich will das Zimmer nur sehn, weiter nichts. Geben Sie mir den Schlüssel!«
»Hier ist er schon, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame die mit zitterig unsichern Händen in ihrem Schlüsselbund gesucht hatte. »Hier ist der Schlüssel, er wird im Augenblick los sein. Aber Sie wollen sich doch nicht da droben aufhalten, gnädiger Herr? Sie haben’s hier so behaglich.«
»Nein, nein«, rief er ungeduldig. »Danke, Frau Leaf. Ich brauche weiter nichts.«
Sie verweilte noch einige Augenblicke und wollte über irgendeine Angelegenheit der Haushaltung ins Schwatzen kommen. Er seufzte und sagte, sie solle alles machen, wie sie’s fürs Beste hielte. Mit strahlendem Lächeln ging sie hinaus.
Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und sah sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große Decke aus purpurnem Atlas, die schwer mit Gold gestickt war. Es war ein prachtvolles Stück venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater in einem Kloster in der Nähe Bolognas gefunden hatte. Ja, die konnte er brauchen, um das Schrecknis damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch gedient. Jetzt sollte sie etwas bedecken, das eine Fäulnis eigener Art an sich hatte, eine schlimmere noch als die Fäulnis des Todes – etwas, das Ungeheuerliches gebären sollte und doch nie sterben würde. Was der Wurm für den Leichnam ist, das sollten seine Sünden dem gemalten Bildnis auf der Leinwand werden. Sie würden seine Schönheit Stück für Stück zerstören und seine Anmut zerfressen. Sie würden es besudeln und es so schänden. Und doch würde es weiter leben. Er würde immer lebendig sein.
Ihn schauderte, und einen Moment tat es ihm leid, dass er Basil nicht den wahren Grund gesagt hatte, warum er das Bild verstecken wollte. Basil hätte ihm geholfen, Lord Henrys Einfluss und den noch giftigeren Einflüssen, die aus seiner eigenen Natur kamen, zu widerstehn. Die Liebe, die Basil zu ihm hegte – denn es war wirkliche Liebe – hatte nichts zu tun mit der bloßen physischen Bewunderung der Schönheit, die aus den Sinnen entspringt und die stirbt, wenn die Sinne erschlaffen. Es war eine Liebe, wie Michelangelo sie gekannt hatte und Montaigne und Winckelmann und der große Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber es war jetzt zu spät. Die Vergangenheit konnte immer zunichte gemacht werden. Reue, Leugnen oder Vergessen konnten das bewerkstelligen. Aber die Zukunft war unabwendbar. Es gab Leidenschaften in ihm, die ihren furchtbaren Weg aus ihm heraus finden würden, Träume, die den Schatten des Bösen, das in ihnen war, zur Wirklichkeit machen würden.
Er nahm die große Decke aus Purpur und Gold, die auf dem Sofa lag, und ging mit ihr hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand schnöder, als es vorher war? Ihm schien, dass es sich nicht verändert habe; und doch war sein Widerwille dagegen stärker geworden. Goldenes Haar, blaue Augen und rosige Lippen – das war alles da. Nur der Ausdruck hatte sich verändert. Der war grauenhaft in seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu dem Tadel und Vorwurf, den er in ihm erblickte, wie oberflächlich waren da Basils Vorhaltungen wegen Sibyl Vane gewesen! Wie oberflächlich und wie unbedeutend! Seine eigene Seele sah aus der Leinwand auf ihn und rief ihn vors Gericht. Ein qualvoller Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, und er warf das üppige Bahrtuch über das Bild. Während er damit beschäftigt war, klopfte es an die Tür. Er kam hinter dem Schirm vor, als der Diener eintrat.
»Die Männer sind da, Monsieur.«
Er hatte das Gefühl, er müsse den Mann jetzt loswerden.
Er durfte nicht wissen, wohin das Bild käme. Er hatte etwas Schlaues an sich und hatte nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch und warf ein paar Zeilen an Lord Henry aufs Papier, worin er bat, ihm etwas zu lesen zu schicken, und ihn erinnerte, dass sie sich um viertel neun heute Abend treffen wollten.
»Warten Sie auf Antwort«, sagte er, indem er ihm den Brief gab, »und lassen Sie die Männer herein.«
Nach zwei oder drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard in Person, der berühmte Rahmenmacher aus South Audley Street, trat mit einem etwas struppig aussehenden Gesellen ein. Herr Hubbard war ein blühender, rotbärtiger kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst durch den eingewurzelten Geldmangel der meisten Künstler, die mit ihm zu tun hatten, gemildert wurde. In der Regel verließ er nie seine Werkstatt: er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber zugunsten Grays machte er immer eine Ausnahme. Es war an Dorian etwas, was jeden entzückte. Es war ein Genuss, ihn nur zu sehn.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Gray?«, fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir die Ehre geben, persönlich herüberzukommen. Auf einer Versteigerung erwischt. Altflorentiner Arbeit. Stammt, glaube ich, aus Fonthill. Wundervoll für eine religiöse Sache geeignet, Herr Gray.«
»Ich bedaure, dass Sie sich selbst die Mühe gemacht haben, Herr Hubbard. Ich werde natürlich gelegentlich vorsprechen und den Rahmen ansehn – obwohl ich zur Zeit an religiöser Kunst nicht viel Interesse nehme –, aber heute möchte ich nur ein Bild ins Dachgeschoss bringen lassen. Es ist recht schwer, darum kam ich auf den Gedanken, Sie zu bitten, mir ein paar Arbeiter zu leihen.«
»Nicht die geringste Mühe, Herr Gray. Freut mich, Ihnen dienen zu können. Wo ist das Kunstwerk, Herr Gray?«
»Hier«, erwiderte Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es mit der Decke und allem hinaufbringen, so wie es ist? Ich möchte nicht, dass es die Treppen hinauf zerkratzt wird.«
»Das wird keine Schwierigkeiten machen«, sagte der muntere Rahmenmacher und fing mit Hilfe seines Gesellen an, das Bild aus den langen Messingketten, an denen es aufgehängt war, loszumachen. »Und nun, wo soll’s hinkommen, Herr Gray?«
»Ich werde Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so freundlich sein wollen, mir nachzugehn. Oder vielleicht ist es besser, wenn Sie vorausgehn. Ich fürchte, es wird ganz unterm Dach sein. Wir wollen die Vordertreppe hinaufgehn, weil sie breiter ist.«
Er hielt die Tür für sie offen, und sie gingen mit dem Bild in den Vorraum und fingen an, hinaufzusteigen. Die reichen Zierraten des Rahmens hatten das Gemälde überaus umfangreich gemacht, und hie und da, trotz der unterwürfigen Proteste Herrn Hubbards, der die lebhafte Abneigung des echten Handwerkers gegen jede nützliche Arbeit eines feinen Herrn hatte, legte Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen.
»Eine ordentliche Last, Herr Gray«, schnaufte der kleine Mann, als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er wischte sich die glänzende Stirn.
»Es wird wohl ziemlich schwer sein«, murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloss, das ihm das seltsame Geheimnis seines Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Augen der Menschen verbergen sollte.
Er hatte den Raum seit mehr als vier Jahren nicht betreten – in der Tat nicht, seit er ihn zuerst in seiner Kindheit als Spielzimmer und dann, als er etwas älter geworden war, als Schulzimmer benutzt hatte. Es war ein großes, schönes Zimmer, das der letzte Lord Kelso ausdrücklich zur Benutzung für den kleinen Enkel, den er wegen seiner außerordentlichen Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch aus andern Gründen immer gehasst und möglichst in Entfernung gehalten, hatte bauen lassen. Das Zimmer schien Dorian wenig verändert. Da war der mächtige italienische cassone mit seinen phantastisch bemalten Füllungen und den matt und schmutzig gewordenen vergoldeten Ornamenten, in dem er