»Und die ist?«, fragte der Jüngling zerstreut.
»Oh, der Trost, der auf der Hand liegt. Man nimmt den Anbeter einer andern, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft wird eine Frau auf diese Weise immer wieder flott. Aber wahrhaftig, Dorian, wie anders muss Sibyl Vane gewesen sein, als all die Frauen, denen man begegnet! Es liegt für mich etwas Schönes in ihrem Sterben. Ich freue mich, in einem Jahrhundert zu leben, wo solche Wunder geschehen. Sie lassen einen an die Wirklichkeit der Dinge glauben, mit denen wir alle spielen, wie Romantik, Leidenschaft und Liebe.«
»Ich war furchtbar grausam zu ihr. Du vergisst das.«
»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, handgreifliche Grausamkeit, mehr als irgend sonst etwas. Sie haben wundervoll primitive Triebe. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die auf die Augen des Herrn blicken, trotz alledem. Sie wollen beherrscht sein. Ich zweifle nicht, dass du glänzend warst. Ich habe dich nie wirklich und ganz und gar im Zorn gesehn; aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du aussahst, und schließlich, vorgestern sagtest du etwas zu mir, das mir damals nur fantastisch vorkam, aber jetzt sehe ich, dass es völlig wahr gewesen ist. Es ist der Schlüssel zu der ganzen Sache.«
»Was war das, Harry?«
»Du sagtest zu mir, Sibyl Vane vergegenwärtige dir all die Frauengestalten der Romantik – sie sei an einem Abend Desdemona und am andern Ophelia; sie sterbe als Julia, um als Imogen wieder zum Leben zu erwachen.«
»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, stöhnte der Jüngling und begrub sein Gesicht in den Händen.
»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du musst an dieses einsame Sterben inmitten des grellen Flitterstaats des Ankleidezimmers nicht anders denken, als wenn es ein seltsames, unheimliches Fragment aus einer Tragödie unserer romantischen Dramatiker wäre, eine wundervolle Szene von Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen lebte nie wirklich, und so ist sie nicht wirklich gestorben. Für sich zum Mindesten ist sie immer ein Traum gewesen, ein Geist, der durch Shakespeares Stücke huschte und sie durch ihr Dasein strahlender machte, ein Flötenton, durch den Shakespeares Musik inniger und freudenreicher wurde. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, verdarb sie es, und es verdarb sie, und so schwand sie dahin. Traure um Ophelia, wenn es dir Genüge tut! Streue Asche auf dein Haupt, weil Cordelia zugrunde ging! Schrei zum Himmel, weil Brabantios Tochter sterben musste! Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich als sie alle.«
Es trat Stille ein. Der Abend hüllte das Zimmer in Dämmerung. Geräuschlos, auf silbernen Füßen, krochen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben schwanden müde aus den verbleichenden Geräten.
Nach einer Weile blickte Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selbst erklärt, Harry«, sagte er wie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich empfand alles, was du gesagt hast, aber ich fürchtete mich etwas davor, und ich konnte es mir selbst nicht zum Ausdruck bringen. Wie gut du mich kennst! Aber wir wollen nicht wieder von dem sprechen, was geschehen ist. Es war ein wundersames Erlebnis – das ist alles. Ich möchte wissen, ob das Leben mir noch mehr so wundersame Dinge vorbehalten hat.«
»Das Leben hat dir alles und jedes vorbehalten, Dorian. Es gibt nichts, was du mit deiner außergewöhnlichen Schönheit nicht tun könntest.«
»Aber denke dir, Harry, ich würde hager und alt und verrunzelt. Was dann?«
»Ach dann«, sagte Lord Henry und erhob sich zum Gehen, »dann, mein lieber Dorian, müsstest du um deine Siege kämpfen. Wie es jetzt ist, werden sie dir entgegengetragen. Nein, du musst schön bleiben, wie du bist. Wir leben in einer Zeit, die zu viel liest, um weise zu sein, und die zu viel denkt, um schön zu sein. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich umzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir sind sowieso recht spät daran.«
»Ich denke, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu abgespannt, um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?«
»Siebenundzwanzig, glaub ich. Ihr Name steht an der Tür. Aber es tut mir leid, dass du nicht mit essen kommst.«
»Ich bin nicht aufgelegt dazu«, sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin dir schrecklich dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist sicher mein bester Freund. Niemand hat mich je so verstanden wie du.«
»Wir sind erst im Anfang unsrer Freundschaft, Dorian«, antwortete Lord Henry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Hoffentlich sehe ich dich vor neun Uhr dreißig. Vergiss nicht: die Patti singt!«
Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, klingelte Dorian Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Rouleaus herunter. Er wartete ungeduldig, bis der Diener wieder ging. Der Mann schien unendlich lange für alles zu brauchen.
Sowie er das Zimmer verlassen, stürzte Dorian Gray zu dem Schirm und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht weiter verändert. Es hatte die Nachricht vom Tode Sibyl Vanes gehabt, ehe er darum gewusst hatte. Es wurde die Ereignisse des Lebens inne, sowie sie vorfielen. Die böse Grausamkeit, die die feinen Linien des Mundes verzerrte, war ohne Zweifel in dem Augenblick dagewesen, als das Mädchen das Gift getrunken hatte. Oder kümmerte es sich nicht um Resultate? Nahm es nur zur Kenntnis, was in der Seele vor sich ging? Das hätte er gern gewusst und hoffte, dass er eines Tages die Veränderung vor seinen Augen eintreten sähe, und ihn schauderte, als er es hoffte.
Arme Sibyl! Wie romantisch alles gewesen war! Sie hatte den Tod oft auf der Bühne gespielt. Jetzt hatte der Tod selbst nach ihr gegriffen und sie mit sich geführt. Wie hatte sie diese furchtbare letzte Szene gespielt? Hatte sie ihn verflucht, als sie starb? Nein; sie war aus Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm fortan ein Sakrament sein. Sie hatte durch das Opfer ihres Lebens, das sie gebracht hatte, alles gesühnt. Er wollte nicht mehr an das denken, was er an diesem schrecklichen Abend im Theater durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, sollte es als an eine wundervolle tragische Gestalt sein, die auf die Bühne der Welt gesandt worden war, um die erhabene Wirklichkeit der Liebe zu künden. Eine wundervolle tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er an ihre kindliche Erscheinung, ihre heitere fantastische Art, ihre schüchterne, bebende Grazie dachte. Er wischte sie schnell fort und betrachtete wieder das Bild.
Er fühlte, der Zeitpunkt war da, wo er wählen musste. Oder hatte er bereits gewählt? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden – das Leben und seine eigene unsägliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend, unendliche Gluten, feine und geheime Genüsse, wilde Freuden und wildere Sünden all das sollte er haben. Das Bild sollte die Last seiner Schande tragen: das war alles.
Ein qualvolles Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, die des schönen Antlitzes auf der Leinwand wartete. Einmal hatte er in knabenhaft-übermütiger Nachahmung des Narzissus die gemalten Lippen, die jetzt so grausam auf ihn herablächelten, geküsst oder getan, als ob er sie küsse. Morgen für Morgen hatte er vor dem Bilde gesessen und hatte seine Schönheit bewundert; es schien ihm zuzeiten, als ob er fest in das Bild verliebt sei. Sollte es sich jetzt mit jeder Laune, der er nachgab, verändern? Sollte es ein ungeheuerliches, widerwärtiges Ding werden, das man in verschlossenem Raum verstecken, vor dem Sonnenlicht, das so oft das wallende Wunder seines Haares noch glänzender vergoldet hatte, verschließen musste? Oh, über den Jammer! Über den Jammer!
Einen Augenblick dachte er daran, zu beten und zu erflehen, die entsetzliche Sympathie, die