Auf einmal war alles ganz anders. Der Hafen mit seinen Booten, die Häuser von Neah Bay und die Fischfabrik waren aus unserem Blickfeld verschwunden. Wir erreichten den Eingang der Meerenge von Juan de Fuca. Auf der rechten Seite lag Kanada, vor uns das offene Meer, und zu unserer Linken tauchten die schroffen Felsen von Cape Flattery auf.
Seemöwen hatten ihre Nistplätze in den Spalten der Felsen. Einige Vogelarten schienen ihre Nester auch in den dunklen Höhlen unter dem Kap zu haben, die sich bei Flut mit Wasser füllten. Weißer Schaum spritzte, wenn die grünen Wellen sich an den Felsen brachen. Henry machte uns darauf aufmerksam, dass es hier unter anderem auch die seltenen Papageientaucher gab. Meinem Vater, der diese Vögel unbedingt in seinem Bildband haben wollte, erklärte er, dass es einen guten Weg über Land gab, auf dem man das Kap problemlos erreichen konnte.
»Sie zu fotografieren könnte allerdings schwierig werden«, gab Soones zu bedenken. »Sie haben ihre Nester auf den Klippen und da kommt man nur schwer an sie ran.«
Eine weitere, dem Kap vorgelagerte Insel zog mich in ihren Bann. Auf ihr stand ein gelbes Gebäude mit einem Leuchtturm und auf den Felsen davor tummelten sich Robben. Soones stellte den Motor ab, damit wir die wohlgenährten Tiere eine Weile beobachten konnten. Aufgestört durch den Motorenlärm, sahen sie mit ihren großen runden Augen zu uns herüber. Einige sprangen ins Meer. Zwischen dem Festland und Tatoosh Island war die Strömung jedoch so stark, dass Soones den Motor bald wieder anwarf, damit das Boot nicht auf die Klippen lief. Und die Victoria umfuhr Cape Flattery, den nordwestlichsten Punkt der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die von Klippen beherrschte Küste, mit ihren aus dem Wasser ragenden Felsnadeln und dem sturmzerzausten Wald waren ein überwältigender Anblick. Aber ich hatte natürlich nicht vergessen, warum wir eigentlich hier waren: Ich wollte die Wale sehen.
Suchend starrte ich auf das Meer hinaus. Schon machte sich Enttäuschung in mir breit, weil ich befürchtete unser Bootsausflug könnte umsonst gewesen sein. Nirgendwo konnte ich etwas entdecken, das auch nur annähernd wie ein Wal ausgesehen hätte. Meine Ungeduld wurde immer größer, je länger wir unterwegs waren.
Als plötzlich jemand an meiner Schulter rüttelte, zuckte ich erschrocken zusammen. Es war Javid, der in Fahrtrichtung zeigte und mir mit einem aufmunternden Nicken sein Fernglas reichte.
Ich nahm es und sah hindurch. Mein Blick irrte ziellos umher, denn die Wasserfläche war riesig und zuerst konnte ich nichts Besonderes entdecken. Ein paar kleine Boote waren draußen, sonst gab es nichts als die glitzernde Ebene bis zum Horizont. Wollte er mich auf den Arm nehmen?
Schließlich sah ich etwas, das wie eine schwarze Wurzel aussah, die im Wasser trieb. Beim genaueren Hinsehen wurde mir klar, dass sich die vermeintliche Wurzel bewegte. Das musste ein Wal sein. Ein Orca mit einer seltsam abgebrochen aussehenden Rückenflosse.
Kurz darauf entdeckte ich noch vier weitere Wale. Ihre mächtigen schwarzen Flossen ragten stolz aus dem Wasser wie Schwerter. Allerdings waren sie so weit weg, dass ich sie selbst mit dem Fernglas kaum erkennen konnte.
»Es ist nur eine kleine Gruppe«, sagte Javid. »Granny, eine alte Walkuh, ihre Tochter Conny und ihre beiden Söhne Bob und Lopo. Die Jüngste ist Mora. Ich nehme an, sie ist Grannys Enkelin.«
Ich musste ein dummes Gesicht gemacht haben, denn Javid lachte, dass seine weißen Zähne blitzten. »Du fragst dich, woher ich das weiß?«
Ich nickte und konnte meinen Blick nicht von ihm wenden, seinem Lächeln, seinen Augen. Er hatte eine angenehme, dunkle Stimme und ich mochte es, ihn reden zu hören.
»Ganz einfach«, sagte er. »Ich habe ihnen die Namen gegeben. Orcas leben in Familienverbänden, man nennt sie Schulen.Die Großmutter ist das Familienoberhaupt. Ihre Söhne bleiben ein Leben lang bei ihr, nur die Töchter schließen sich manchmal anderen Schulen an oder bilden eine eigene. Diese fünf Orcas beobachte ich schon länger als einen Monat.«
Henry Soones drosselte den Motor und das Boot bewegte sich in langsamem Tempo parallel zur Walgruppe. Immer deutlicher konnte ich sie erkennen. Als wir nahe genug an den Tieren heran waren, stellte Javids Onkel den Motor ab. Sofort begann das Boot auf den Wellen zu schaukeln und wir klammerten uns an die Reling. Eine Weile sahen wir noch die schwarzen Rückenflossen der Wale aus dem Wasser ragen, dann waren sie plötzlich verschwunden.
Wie gebannt starrten wir alle auf die Stelle im Meer, wo sie untergetaucht waren. Niemand sagte ein Wort. Ich warf Javid einen enttäuschten Blick zu. Aber er wies nur geheimnisvoll aufs Wasser. Und plötzlich tauchten ihre riesigen Körper dicht vor dem Boot wieder auf. Mrs Austin und mein Vater hatten ihre Kameras im Anschlag und nun klickten wild die Auslöser.
Die Wale tauchten unter dem Boot durch, was Mrs Austin mit einem schwachen Schrei kommentierte. Danach umkreisten sie mehrmals unser kleines Motorboot, als wollten sie spielen.
Henry Soones blickte zufrieden drein und begann sein einstudiertes Programm abzuspulen. Er ließ uns hören, was er über Schwertwale wusste. Orcinus orca, wie Wissenschaftler die Meeressäuger nennen, gehören zur Ordnung der Waltiere, und weil ihre Ober- und Unterkiefer spitze Zähne haben, zur Unterordnung der Zahnwale. »Sie sind geschickte und gefürchtete Jäger«, sagte er, »weil sie sich untereinander durch ihren Sonar verständigen können. Wenn sie Lachse jagen, treiben sie sich die Fische gegenseitig ins Maul. Wenn sie lautlos jagen wollen, stellen sie ihren Sonar einfach ab.«
Als der Wal mit der fehlenden Rückenflosse ganz nah ans Boot kam und seinen spitz zulaufenden Kopf neugierig aus dem Wasser streckte, konnte ich die Zähne sehen. Sie waren beeindruckend spitz, aber seltsamerweise hatte ich keine Angst. Die Augen des Orcas blickten freundlich und wissend.
»So ein Orca-Bulle kann maximal neun Meter, eine Kuh sieben Meter lang werden«, erklärte Henry uns weiter. »Im Schnitt werden sie 50 Jahre alt, können aber auch 70 und älter werden.«
So alt, dachte ich fasziniert. Fast wie ein Menschenleben.
Auch die anderen vier Wale hatten ihre Scheu verloren und sich unserem Boot inzwischen bis auf zwanzig Meter genähert. Sie stießen ihren Blas, die feuchte Atemwolke in die Luft und ließen neugierige Klicktöne hören. Ab und an brachen Sonnenstrahlen durch Löcher in den Wolken und ich starrte sprachlos auf die glänzenden Körper dieser schönen Tiere. Sie waren schwarz, Brust und Kinn weiß wie Schnee und hinter den Augen hatten sie diesen länglichen weißen Fleck, der ihre Art unverkennbar machte.
»Da siehst du es«, sagte Javid dicht an meinem Ohr. »Männchen haben eine viel größere Rückenflosse als Weibchen. Außerdem ist die der Männchen gerade und die der Weibchen leicht gebogen. Daran kann man sie unterscheiden.«
Er war mit seinem Gesicht so nah an meinem, dass ihn meine Haare kitzeln mussten. Ich hatte sie zwar heute im Nacken mit einem Haarband zusammengenommen, aber in der feucht-salzigen Luft auf dem Wasser kringelten sie sich wieder ganz furchtbar.
Ich hielt den Atem an, weil ich solche Nähe nicht gewohnt war.
Mrs Austin klammerte sich mit einer Hand an die Reling, mit der anderen versuchte sie ihre Brille von den feinen Salzkristallen zu befreien, die sich auf den Gläsern abgelagert hatten und ihr die Sicht nahmen. »Haben Orcas eigentlich natürliche Feinde im Meer?«, fragte sie mit krächzender Stimme.
Soones schüttelte den Kopf. »Nein Ma’am, nicht umsonst werden sie Killerwale genannt. Sie sind die Herrscher des Ozeans und gehören zu den mächtigsten Raubtieren der Erde. Manchmal nehmen sie es sogar mit Blauwalen auf, obwohl die so viel größer sind als sie selbst. Sie umzingeln den Blauwal und fressen ihm Stücke aus dem Leib, bis sie satt sind. Orcas fürchten sich vor nichts und niemandem. Nur der Mensch kann ihnen gefährlich werden.«
Ich versuchte mir das bildlich vorzustellen, während mein Vater unter halsbrecherischen Verrenkungen noch ein paar Fotos schoss. Nun wollte er wissen, wieso diese Gruppe so klein war, wo er doch von