Mein Vater lachte über mein brüskiertes Gesicht. »Natürlich gibt es heute keine Sklaven mehr«, sagte er. »Jedenfalls nehme ich das mal an. Dafür haben die Makah vor drei Jahren wieder angefangen Grauwale zu jagen.«
»Stehen die nicht auf der Liste der bedrohten Tierarten?«, fragte ich.
»Seit 1996 nicht mehr. Es gibt wieder mehr als 20 000 Grauwale im Pazifik und damit hat sich die Population erholt. Sie sind von der Liste gestrichen worden.«
Ich schüttelte mit verständnisloser Miene den Kopf. »Wozu müssen sie heute wieder Wale jagen? Gibt es in Neah Bay keinen Supermarkt?«
»Ich hoffe, dass es einen gibt. Sonst müssen wir beide vielleicht auch auf die Jagd gehen.«
Zum Glück hatte es aufgehört, zu regnen. Wir frühstückten in einem Schnellimbiss und fuhren an der Willapa Bay entlang, bis wir den Ozean erreichten.
Ich war nicht zum ersten Mal am Meer. Aber als ich an der Shoalwater Bay den Pazifik sah, wusste ich, dass hier alles anders sein würde als in meinen Vorstellungen. Es war wie eine unerwartete Verheißung, ein Versprechen, das mein Herz schneller schlagen ließ.Da war es plötzlich wieder, dieses unbändige Gefühl von Neugier und Erwartung, das mich vor Monaten verlassen hatte.
Es herrschte Ebbe und der Sandstreifen am Ufer war breit und glatt wie grauer Samt. In der Ferne schimmerte quecksilbern der Ozean. Meterdicke Stämme mit riesigen Wurzeln säumten den Strand, ausgeblichen wie alte, sauber abgenagte Knochen. Einzelne Nadelbäume aus dem angrenzenden Wald neigten sich tief dem Meer zu, als würden sie von einer unsichtbaren Hand herabgezogen. Einige Häuser, die man offensichtlich zu nah am Strand gebaut hatte, waren von ihren Bewohnern bereits verlassen worden.
»Das ist unglaublich.« Papa war ganz hingerissen. Schon hatte er die Kameratasche und sein Stativ in der Hand. Ich hatte nichts dagegen, dass er hier fotografieren wollte. Das war ein verrückter Ort und ich spürte große Lust, länger zu bleiben und ihn zu erkunden.
Wir verbrachten mehrere Stunden an der Shoalwater Bay. Mein Vater fotografierte und ich versuchte mit dieser magischen Welt des Meeres und den abgestorbenen Baumriesen Bekanntschaft zu schließen. Das war ein guter Platz, um zu vergessen.
Noch einmal übernachteten wir in einem Motel an der Straße, diesmal am Rand des Regenwaldes, der am Fuße der Rocky Mountains wuchs. In unserem Reiseführer las ich, wie er entstanden war: durch den warmen pazifischen Strom, der Nässe vom Meer heranbrachte. Sie stieg auf und regnete vor den Rocky Mountains ab. Dieser Steigungsregen, von Winden landeinwärts getrieben, ließ riesige Rotzedern, Sitkafichten und Douglasien wachsen. Meterdicke Stämme, die hunderte von Jahren alt waren. Ihre Äste und Zweige waren flaschengrün gefärbt von Farnen, Moosen und Flechten. Sogar Algen wuchsen in diesem Regenwald.
Abends lag ich auf meinem Bett und studierte die Karte. Ein Stück weiter östlich, wo die Finsternis des Regenwaldes endete, erhoben sich die Olympic Mountains mit ihren schneebedeckten Gipfeln.
»Die Berge sind ganz nah«, sagte ich und blickte zu meinem Vater auf. »Aber wir haben sie noch kein einziges Mal gesehen.«
»Das Wetter ist schuld. Wenn die Sonne scheint, kann man sie sehen.«
»Aber sie scheint nicht«, stellte ich trocken fest.
»Es kann ja nicht vier Wochen lang ununterbrochen regnen«, versuchte mein Vater mich aufzumuntern. »Aber in den nächsten Tagen soll das Wetter so bleiben. Ich schlage vor, wir fahren erst einmal nach Neah Bay und quartieren uns dort ein. Wenn die Sonne scheint, können wir immer noch in den Regenwald fahren.«
Schon wieder Versprechungen, dachte ich traurig, ließ es aber dabei bewenden.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir Neah Bay, die Heimat der Makah-Indianer am nördlichen Ende der Olympic-Halbinsel. Am Ortseingang passierten wir zunächst die Station der US-Küstenwache, einen Komplex aus gelben Backsteingebäuden, und gleich darauf sahen wir auf der linken Seite das Museum mit einem Kulturzentrum. Auf der schnurgeraden Hauptstraße fuhren wir vorbei an Wohnhäusern und Trailern, Lagerhallen und einem großen Supermarkt. Rechts in der Bucht lag der geschützte Hafen mit seinen vielen kleinen Booten. Es gab Bootsrampen, eine Tankstelle und zwei Restaurants. Auf der Suche nach einer Unterkunft drehten wir eine Ehrenrunde durch den Ort, bis wir gefunden hatten, wonach wir suchten.
In Neah Bay gab es nur zwei Motels und wir entschieden uns für das kleinere mit einem bunten Totempfahl davor. Seine einst kräftigen Farben waren verblichen, trotzdem machte er Eindruck auf mich. Die riesigen schwarzen Augen und vor allem das breite Maul des seltsamen Wesens, das er darstellen sollte, sahen Furcht erregend aus. Große weiße Zähne, wie die Tasten eines Klaviers. Eine lang heraushängende rote Zunge. Ein Wolf vielleicht, dachte ich, oder ein Bär.
Das Motel stand direkt an der Hauptstraße, aber die Zimmer gingen nach hinten auf eine umzäunte Wiese hinaus. Ein paar Nadelbäume standen dort und eine überdimensionale schwarze Satellitenschüssel. Das einstöckige, mit wetterverblichenen Holzschindeln verkleidete Gebäude hatte die Form eines Winkels und sah einladend aus, was man von vielen anderen Gebäuden in Neah Bay nicht behaupten konnte. Den meisten Häusern hätten ein bisschen frische Farbe und ein paar Reparaturen gut getan. Vielleicht gab es hier niemanden, der handwerklich geschickt war, dachte ich. Aber die Trostlosigkeit des Ortes störte mich kaum. Im Gegenteil, genauso wie das Wetter passte dieses graue Indianerdorf zu meinen Gefühlen. Schon hatte ich Sorge, dass mir in den nächsten Tagen die dunklen Farben in meinem Farbkasten ausgehen könnten.
Die Motelbesitzerin hieß Freda Ahdunko. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig und fand sie ausgesprochen hübsch. Dunkle Haut, schwarz glänzende lange Haare, schräge dunkle Augen. Als wir nach den Zimmerpreisen fragten,machte sie uns ein Angebot: Wir konnten zwei frisch renovierte Zimmer im Erdgeschoss haben, mit holzverkleideten hellen Wänden, bedruckten Vorhängen, einem Fernseher und neuem Mobiliar. Diese Zimmer waren allerdings erheblich teurer als die anderen im ersten Stock, die sie uns danach zeigte: Sie waren abgewohnt, das Holz an den Wänden war stark gedunkelt und es roch nach abgestandener Luft. Dafür waren sie bezahlbar und der Ausblick war besser. Vom breiten Treppenaufgang aus, der sich wie eine Veranda um die obere Etage zog, hatte man einen Blick auf die Wälder hinter dem Ort und konnte gleichzeitig den Hafen sehen.
Die Indianerin erklärte uns, dass sie das Motel erst vor anderthalb Jahren gekauft hatte und es nun nach und nach renovieren ließ. »In Ordnung sind die oberen Zimmer trotzdem«, sagte sie ein wenig brüskiert, als sie Papas Zögern bemerkte.
Mein Vater nickte. »Wir nehmen diese beiden«, sagte er. »Für drei Wochen.«
Freda Ahdunko riss überrascht die schwarzen Augen auf. »Das ist ziemlich lange für einen Ort wie Neah Bay!«, sagte sie. Ich merkte, dass sie gerne gewusst hätte, was wir vorhatten, aber sie hütete sich davor, neugierige Fragen zu stellen.
Mein Vater war guter Laune und beantwortete ihr die unausgesprochene Frage. »Ich bin Fotograf und soll für einen Bildband Aufnahmen vom Makah-Stammesfest machen.«
»So, so.« Ein kurzes Zögern. »Und da kommen Sie schon jetzt?«
»Warum nicht?« Papa schien dieses Gespräch irgendwie zu amüsieren. »Es wird in diesem Buch auch Bilder vom Regenwald und von der Küste geben. Meine Tochter und ich werden unsere Ausflüge eben von hier aus machen. Ich wollte nur sichergehen, dass wir auch eine ordentliche Unterkunft finden. Zu den Festtagen soll hier ja alles ausgebucht sein.« Er schmunzelte in sich hinein.
Freda sah ihn schräg von der Seite an, und als sie merkte, dass er scherzte, sagte sie: »Na, die ordentliche Unterkunft ist Ihnen auf jeden Fall sicher.« Sie lächelte versöhnlich und ich sah, dass sie nicht nur hübsch, sondern schön war. Das warme Leuchten in ihren dunklen Augen erinnerte mich an meine Mutter.
»Aber Sonnenschein kann ich nicht garantieren«, meinte sie spöttisch. »Ich hoffe, Sie wissen, worauf