Dicke Tropfen klatschten gegen die kleinen Scheiben des Flugzeugs. »Regenwetter«, sagte mein Vater. »Wie kann es anders sein. In dieser Ecke Amerikas gibt es nur wenige Tage im Jahr, an denen der Himmel wolkenlos ist und die Sonne scheint.«
Na prima, dachte ich. »Warum sagst du mir das eigentlich erst jetzt?« Ich machte ein mürrisches Gesicht.
Papa lächelte müde. »Weil du sonst nicht mitgekommen wärst.«
Tatsächlich hatte ich nichts gegen Regen und die grauen Wolken passten zu meiner Stimmung. Für mich hatte die Farbe Grau den gleichen Wert wie alle anderen Farben. Es gab ein schwarz glänzendes Grau, ein milchiges, Schiefergrau und Muschelgrau. Und das war noch längst nicht alles. Wenn ich hinaussah in den Himmel, wurde mir klar, dass zur Palette meiner Grautöne hier noch einige Nuancen hinzukommen würden.
Endlich konnten wir die Sitzgurte lösen und langsam leerte sich das Flugzeug. Mein Vater holte seine Kameratasche aus dem Gepäckfach und wir bewegten uns in einer ungeduldigen Menschenschlange nach draußen. Da wir in Cincinnati zwischengelandet waren und dort auch schon die Einreiseformalitäten erledigt hatten, ging für uns jetzt alles ziemlich schnell. Wir holten unser Gepäck vom Laufband und mein Vater mietete einen Leihwagen.
Es war ein Chevrolet, sehr rot und sehr neu, aber Papa versicherte mir, dass wir uns schnell daran gewöhnen würden. Nachdem wir unser Gepäck in den Kofferraum verladen hatten, verließen wir das Flughafengelände und befanden uns wenig später auf der großen Hauptstraße, die direkt nach Seattle führte.
Ich hatte nicht viel übrig für große Städte, weil ich auf einem kleinen Dorf aufgewachsen war, in dem nur knapp vierhundert Menschen lebten. Berlin war nie mein Zuhause geworden. Draußen in der Natur fühlte ich mich am wohlsten und am sichersten. Doch trotz der Wolkenkratzer im Zentrum entpuppte sich Seattle als gemütliche Stadt mit viel Grün und bunten, freundlichen Menschen. Das Regenwetter schien ihnen überhaupt nichts auszumachen.
Auf der Suche nach etwas zu essen landeten wir schließlich in einem Schnellimbiss. Danach mieteten wir uns in ein billiges Motel ein und fielen todmüde in unsere Betten.
Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr, aber der Himmel war immer noch grau. Betongrau. Die Wolken hingen tief, es schien, als würden sie wie eine Decke über der Stadt liegen.
Papa hatte noch ein paar Einkäufe zu erledigen, deshalb fuhren wir ins Zentrum am Pioneer Place. Vor allem mussten wir uns Regenkleidung besorgen. Dazu waren wir in Deutschland bei unserer hektischen Abreise nicht mehr gekommen.
Als wir alles Wichtige gekauft hatten, unter anderem auch zwei knallrote Regenjacken – viel zu rot für meinen Geschmack! –, entschieden wir die Stadt zu verlassen und uns auf den Weg an die Pazifikküste zu machen. Vielleicht zeigte sich die Metropole ja auf der Rückfahrt von einer sonnigeren Seite.
Die Autobahn führte uns durch Städte wie Tacoma und Olympia, Centralia und Cehalis, die zwar wunderschöne, viel versprechende Namen hatten, sich in ihrem einfallslosen Aussehen aber kaum voneinander unterschieden. Tankstellen von Shell und Texaco, verschiedene Fastfoodketten und riesige Supermärkte säumten das Asphaltband der Straße. Monströse Einkaufszentren mit betonierten Parkplätzen – so groß wie Fußballfelder – wechselten einander ab. Amerika eben. Ich hatte mir Vorstellungen gemacht und fand sie noch übertroffen. Was ich sah, erstaunte mich zwar, aber es gefiel mir nicht besonders. Ich sehnte mich nach den endlosen Wäldern und dem Ozean, mit dessen Schilderung mein Vater mich schließlich hierher gelockt hatte.
Im Pazifischen Ozean gab es Wale. Eine Zeit lang war ich ganz vernarrt gewesen in Wale. Die Wände meines Kinderzimmers hatte ich mit selbst gemalten Walbildern tapeziert und zu meinem ersten Schulfasching war ich als Orca verkleidet gegangen. Das Kostüm aus einem Drahtgestell, bespannt mit schwarzweißem Stoff, hatte meine Mutter selbst genäht.
Als wir nach Berlin zogen, waren meine Walbilder in einer Mappe verschwunden. Stattdessen hatte ich nun Bäume gemalt. Von meiner Leidenschaft für die großen Meeressäuger war nur ein Bildband übrig geblieben, den Tante Elisabeth mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Am frühen Abend erreichten wir den kleinen Ort Raymond, wo wir uns ein Motelzimmer nahmen. Hinter den Häusern am Rande der Straße erstreckten sich riesige dunkelgrüne Wälder und hier war der Ozean nicht mehr weit. Die Luft roch salzig, nach Tang und nach Fisch. In dem kleinen Restaurant, das wir aufsuchten, nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, standen Meeresfrüchte aller Art auf der Speisekarte. Mein Vater mochte Muscheln, Krabben und Langusten. Er war auf seinen vielen Reisen zum Feinschmecker geworden und nach den ewigen Pizzamahlzeiten der letzten Wochen hatte er offensichtlich Nachholbedarf.
Er bestellte sich Muscheln mit Knoblauchsoße und ich hatte mir gegrillten Lachs und Folienkartoffeln ausgesucht. Ich verspürte zwar Hunger, hatte aber keinen Appetit und aß nur aus Vernunftgründen. In den letzten Wochen war ich furchtbar mager geworden, was mir sehr zu schaffen machte. Ich wünschte, meine Brüste würden ein bisschen wachsen, aber dafür musste ich natürlich auch was tun. Genug Essen eben, selbst wenn es keine Freude machte.
Während der Fahrt hatten Papa und ich nicht viel gesprochen. Ab und zu ein paar organisatorische Dinge und hin und wieder hatten wir uns über die Eigenheiten des Landes ausgetauscht. Die meiste Zeit herrschte jedoch Schweigen. Ich hatte das Reden irgendwie verlernt, und dass mein Vater so wenig sprach, lag ja vielleicht auch daran, dass er es überhaupt nicht gewohnt war, auf seinen Reisen von jemandem begleitet zu werden.
Nun saßen wir uns am Tisch gegenüber, und wenn er meine Mutter gewesen wäre, hätten wir endlos zu erzählen gehabt. Aber er war mein Vater und es fiel mir schwer, ein Gespräch mit ihm anzufangen. In diesem Augenblick war er wie ein Fremder für mich. Keine Ahnung, wie ich die kommenden vier Wochen mit ihm aushalten sollte.
»Bist du müde?«, fragte er mich schließlich.
»Ja, ein bisschen.So lange im Auto zu sitzen strengt an.«
»Das längste Stück haben wir geschafft«, tröstete er mich. »Wenn wir in Neah Bay sind, bekommst du ein eigenes Zimmer. Aber für die zwei oder drei Male, die wir unterwegs übernachten müssen, werden wir schon miteinander auskommen, oder?«
»Klar«, sagte ich achselzuckend. »Kein Problem.«
Unser Essen wurde gebracht und ich sah gleich, dass es lecker sein würde. Der Lachs sah frisch aus und das zartrosa Fleisch duftete gut.
»Lass es dir schmecken!«, sagte mein Vater.
»Ja, du auch.«
Während wir aßen, erzählte Papa, dass er sich in seiner Kindheit sehr für die Indianer der Nordwestküste interessiert hatte und deshalb neugierig darauf war, was ihn im Reservat der Makah erwartete. »Meine Freunde bauten damals Tipis aus Wäschestangen und Bettlaken und jagten die Kühe auf der Wiese herum, als wären sie wilde Büffel. Und ich habe versucht ein Kanu zu bauen. Richtig besessen war ich davon und kriegte es sogar hin.« Er lächelte kopfschüttelnd in der Erinnerung. »Aber als ich es ausprobieren wollte, kippte es jedes Mal um und füllte sich mit Wasser. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht. Ich war eben doch kein richtiger Indianer.«
Ich musste lächeln und erinnerte mich an das vermoderte alte Holzstück am See hinter dem Haus meiner Großmutter. Was übrig geblieben war, hatte tatsächlich die Form eines Kanus. Oft hatte ich dort gesessen und gemalt. Ich hatte geträumt, ohne etwas von den Träumen meines Vaters gewusst zu haben.
»Ich weiß nicht viel über Indianer«, sagte ich. »Nur das, was wir im Englischunterricht besprochen haben.«
»Vielleicht ist das gar kein Nachteil«, meinte er. »Dann bist du unvoreingenommen.« Er schwang die Gabel. »An diesen Indianervölkern ist so vieles faszinierend: ihre Kanus, mit denen sie auf Walfang gingen, ihre riesigen Totempfähle, die sie aus einem einzigen, uralten Zedernstamm herstellen konnten … und die Tatsache, dass sie Sklaven hatten.«
»Sklaven?« Ich runzelte die Stirn und schluckte einen Bissen Lachs hinunter.
»Ja, sie erbeuteten sie auf ihren Kriegszügen und ließen sie die schweren Arbeiten