20
Der Juli kam, das Schuljahr ging zu Ende, und ich nahm Abschied von Ingrid, von meinen Schülern, von meinen Freunden und Kollegen, von den Alten, von Feldkirch, von Vorarlberg. Wir übersiedelten nach Graz, und ich verliebte mich sofort. Nein, nicht schon wieder in eine Frau, sondern in die Stadt. Aber auch sie musste ich bald wieder verlassen, um, zusammen mit weiteren Erziehern, am Wiener Westbahnhof eine ansehnliche Gruppe von Schülern zu übernehmen und mit ihnen nach England zu fahren. In Dover wurden wir mit Bussen abgeholt und in ein sogenanntes ländliches Zentrum („rural centre“) inmitten idyllischer südenglischer Landschaft gebracht. Dort erwarteten uns bereits eine Schar englischer Schüler, die von den österreichischen Lehrern in Deutsch unterrichtet werden sollten, und dazu mehrere englische Lehrer, die das Englisch unserer österreichischen Schüler aufpolieren sollten. Dieses „rural centre“ erwies sich bei unserer Ankunft als Ansammlung niedriger Holzbaracken inmitten von Wiesen und Wäldern nahe dem Dörfchen Ewhurst.
Diese Baracken waren denkbar primitiv, ohne jeglichen Komfort. Aber das machte uns überhaupt nichts aus. Wir waren ja alle noch jung, Schüler wie Lehrer; und wenn ich sage, Schüler wie Lehrer, so sind, wie damals noch allgemein üblich, beide Geschlechter gemeint. Auch die Lehrerschaft zerfiel in sechs Männlein und sechs Weiblein. Fast hätte man auf die Idee kommen können, der Veranstalter habe darauf geachtet, dass bei einer eventuellen Paarbildung keiner übrig bleibt und in Depressionen verfällt.
Nein, liebe Irmi, das war jetzt natürlich ein Scherz. Aber falls sich das tatsächlich jemand ausgedacht haben sollte, so hatte er es sich schlecht ausgedacht. Denn so sehr die Paarbildung selbst durch das enge Zusammenleben in einem solchen Heim gefördert wurde, so schwierig würde es für ein Pärchen werden, einen geeigneten Ort zu finden, wo sie ungestört das tun konnten, was Liebespaare so zu tun pflegen. Es gab nämlich keine Einzelzimmer. Nur, was mich betrifft, so hatte ich nicht die leiseste Absicht, mich an einer Paarbildung zu beteiligen. Mein Bedarf nach außerehelichem Sex war momentan für lange Zeit gedeckt.
Ja, so dachte ich. Aber noch einmal: Der Mensch denkt, Gott Eros lenkt.
Unter den englischen Kolleginnen war eine Grazie von außergewöhnlicher Anmut und ebensolchem Charme. Auffallend hübsch war sie zwar nicht. Aber dafür trug sie meistens einen Minirock, und im Vergleich dazu war Ingrids Miniröckchen geradezu eine Nonnentracht. Nicht umsonst ist, wie du sicher weißt, England der Ausgangspunkt der Minimode. Kein Wunder also, dass Patricia, so hieß diese Grazie, von anderen männlichen Mitgliedern des Lehrkörpers umschwärmt wurde wie ein Auerhuhn von den balzenden Hähnen.
Dieser Umstand bestärkte mich noch in meinem Vorsatz. Entspannt und amüsiert beobachtete ich die Balztänze meiner lieben Kollegen aus der Ferne und stellte fest, dass Patricia darauf kaum reagierte und mich bei weitem mehr beachtete, obwohl, oder vielleicht sogar, weil ich ausschließlich sachlich mit ihr verkehrte. Entschuldige, aber so sagt man halt. Und meine Blicke auf ihren tollen Minirock und das, was darunter zu sehen war, suchte ich, so gut es ging, zu verheimlichen. Denn natürlich wurden und werden auch sie von reizvollen Anblicken unwillkürlich und sogar gegen meinen Willen angezogen wie das Eisen vom Magneten und erregen in meiner Brust automatisch sexuelles Begehren. O ja, auch heute noch. Darum ist ja der gestern erwähnte Ausspruch von Jesus Wer eine Frau begehrlich ansieht und so weiter nicht gerade ein Beweis für göttliche Weisheit. Ebenso wenig der darauf folgende: Wenn dich dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus und wirf es von dir. Denn es ist für dich nützlich, dass nur ein einziges deiner Glieder verlorengeht und nicht dein ganzer Körper in die Hölle geworfen wird. Solche Aussagen deuten eher darauf hin, dass er vom Funktionieren der menschlichen Seele nicht gerade viel Ahnung gehabt haben kann.
21
Etwa eine Woche nach unserer Ankunft führte uns ein ganztägiger Ausflug nach London. Leider regnete es in Strömen, und darum beschränkten wir uns im Wesentlichen auf eine ausführlichere Stadtrundfahrt. Nur der Tower sollte unbedingt besichtigt werden, und da mussten wir doch ein Stückchen durch den Regen laufen, ehe wir im Hauptgebäude, dem eigentlichen Tower, wieder ein Dach über dem Kopf hatten, und Schirm hat jeder mit? Na also, dann ist ja alles bestens.
Nein, jeder nicht. Patricia hatte keinen mit. Sie musste bei jemandem schmarotzen. Und bei wem schmarotzte sie? Nicht bei einem ihrer Balztänzer. Auch nicht bei einem der Schüler. Nein, bei mir. Und sie drängte sich ganz nahe an mich – um ja trocken zu bleiben? oder aus irgendwelchen anderen Gründen?
Die Antwort erfuhr ich drinnen während der Führung. Da wich sie nämlich noch immer nicht von meiner Seite, und ich genoss ihre Nähe; ich sage es ganz offen. Zugleich bildeten wir das Schlusslicht, auf dass uns kein Kindlein verlorengehe. Das hatte sie selbst so eingefädelt. Dadurch verstanden wir einerseits kaum etwas von den Worten des Führers. Andererseits erlaubte es uns eine private Unterhaltung im Flüsterton.
„Du weißt schon“, begann sie, „warum ich so an dir klebe? Ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm.“
„Aber nein“, flüsterte ich zurück. „Nie im Leben. Ganz im Gegenteil ...“
Sie schenkte mir ein ausgesprochen süßes Lächeln. „Weil du der Einzige bist ... Weil du nicht andauernd um mich herumscharwenzelst“ - im O-Ton: „Because you aren't dancing attendance on me all the time.“ (Sie musste also auch an irgendwelche rituellen Tänze denken.) „Du glaubst nicht, wie mich das schon nervt.“
„Hm.“
Schweigen.
„Warum eigentlich du nicht? Gefalle ich dir nicht?“
„Oh ... Wenn du wüsstest, wie sehr du mir gefällst. Dein Charme ... Deine weibliche Anmut ... Ich bin in Wahrheit total bezaubert von dir. Bezaubert und fasziniert. Aber deshalb ... Ich kann doch meinen Kollegen keine Konkurrenz machen.“
Patricia kicherte leise, schwieg. Dann: „Danke, Benedikt. Das war ein schönes Kompliment. Schöner als alles, was deine Kollegen bisher so von sich gegeben haben. Dafür darf ich dir auch eines machen. Du gefällst mir nämlich auch. Sehr.“
Und sie legte ihre Hand auf meinen Arm, was mich mit süßem Schauer erfüllte. Was hatte ich erst kürzlich irgendwo gelesen? Wenn eine Frau einen Mann berührt, so heißt das, sie möchte, dass er sie seinerseits berührt. Ja, aber genau das traute ich mich nicht. Stattdessen blickte ich ihr intensiv in die Augen und flüsterte: „Oh ... Danke, Patricia.“
Während dieses Gesprächs waren wir immer langsamer geworden und zuletzt überhaupt stehengeblieben und waren momentan außer Sichtweite