Ich lache. „Und mit dem sie gerade schäkert. Genau. Und du? Du bist allein?“
In diesem Moment kommt Bewegung in die Menschenmenge. Was ist los? Ach, unser Boot legt soeben an, und alle geraten in Panik, sie könnten auf ihm keinen Platz mehr finden und müssten die Nacht hier auf Delos unter freiem Himmel verbringen (was ohnedies verboten ist) und unterdessen verhungern und verdursten. Irmi und ich geraten nicht in Panik, sondern setzen uns nur zögernd in Bewegung, blicken uns mit unglücklicher Miene an und beschließen in wortloser Übereinkunft, dass wir uns nicht sofort wieder aus den Augen verlieren dürfen, dass wir zumindest unser unvollendetes Gespräch weiterführen müssen. Ob wir es auf dem Boot fortsetzen können, ist ja höchst ungewiss. Also frage ich sie, in welchem Hotel auf Mykonos sie wohnt, und sie erwidert, in gar keinem Hotel, sondern in einem Privatzimmer nahe den berühmten Windmühlen, und beschreibt mir bereitwillig den genauen Weg dorthin, und ich verspreche, sie, sobald ich mich freimachen könne, zu besuchen; ihre Privatunterkunft dürfte von unserem Hotel aus leicht zu Fuß zu erreichen sein.
Yvonne empfängt mich mit der sarkastischen Bemerkung, ich hätte den Zigarettenrauch wohl zum Vorwand genommen, um mir eine neue Freundin anzulachen.
O nein, erwidere ich in ähnlichem Ton. Sondern um ihr Gelegenheit zu geben, sich einen neuen Freund anzulachen. Im Übrigen sei das keine neue, sondern eine alte Freundin von mir, die ich hier durch Zufall oder ein veritables Wunder wiedergefunden hätte.
„Und die du natürlich sofort besuchen musst, um die alte Freundschaft aufzufrischen, wie?“
„Aber nein. Sondern um dir Gelegenheit zu geben, deine neue Freundschaft zu pflegen.“
„Geh, Benedikt, mach dich nicht lächerlich. Nur weil ich einmal ein bisserl mit einem anderen als mit dir geplaudert habe. Das ist halt ein Engländer, der vor zwanzig Jahren in Österreich lebte. Und damals war er ein ganzes Schuljahr lang englischer Sprachassistent an einem Grazer Gymnasium. Vielleicht kennt ihr euch sogar von damals.“
Also kann ich nicht umhin, mit ihm während der Überfahrt nach Mykonos ein kurzes Gespräch zu führen, nur um festzustellen, dass wir uns nicht kennen. Aber trotz meiner spontanen Aversion gegen seine Person bin ich ihm innerlich zutiefst dankbar. Hat er doch Irmi und mich nach über vierzig Jahren unabsichtlich wieder zusammengebracht. Und sobald ich, in unserem Hotel angekommen, geduscht und mich umgezogen habe, gebe ich Yvonne einen flüchtigen Kuss und eile schnurstracks zu Irmi und quäle mich auf dem ganzen Weg zu ihr mit der Frage, wie sie mich wohl empfangen wird.
Wie empfängt sie mich also? Ich staune: Mit stürmischer Umarmung. Und mit einem wahren Strom an Tränen. Ich suche sie zu trösten, indem ich zaghaft ihre tränennassen Wangen streichle, und stelle fest, dass in ihnen noch immer Eros lauert.
„Ach, Benedikt“, sagt sie, sobald sie sich einigermaßen beruhigt hat, „ich war ja so hässlich zu dir. Aber glaub mir, nicht aus bösem Willen oder so. Und auch nicht, weil ich dich zu wenig geliebt hätte. Aber weißt du, ich war so was von verklemmt. Und Mama-hörig. Ich war ihr einziges Kind und ihr einziger Lebensinhalt. Mein Vater ist vor Stalingrad gefallen. Drum hielt sie mich ja auch immer von den Jungen fern. Und als ich eines Tages dich anschleppte, na, da war der Teufel los. Und so ...“
Neuerlich versagt ihr die Stimme, und die Tränen brechen mit unglaublicher Gewalt hervor, und ich bin hin- und hergerissen zwischen Mitleid und gerechtem Zorn. Denn natürlich ist mir durch ihr Geständnis und überhaupt durch die Wiederbegegnung mit ihr die alte, nur oberflächlich vernarbte Wunde aufgebrochen, und ich habe selbst mit den Tränen zu kämpfen.
So stehen wir, ich weiß nicht, wie lange, aneinandergeschmiegt und geben uns dem Schmerz unserer alten Wunden hin, und es dauert eine kleine Ewigkeit, ehe sich Irmi wieder beruhigt und mich bittet, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, sich mir gegenüber setzt und mich schweigend mit großen Augen anblickt.
„Du lebst also allein?“, beginne ich zögernd, um dieses unbehagliche Schweigen zu beenden.
Sie nickt.
„Und? Hast du jemals geheiratet? Oder mit einem Mann zusammengelebt?“
Sie schüttelt den Kopf und stößt ein bitteres Lachen aus. „Nein, nein, der Märchenprinz hat sich kein zweites Mal bei mir eingestellt. Und hätte er das, so hätte uns unter Garantie meine Mutter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und später, als ich alt und hässlich wurde, bestand sowieso keine Gefahr mehr. Außerdem wurde sie mehr und mehr ein Pflegefall. Und da habe ich sie halt gepflegt und selber ganz zu leben vergessen. Und dieser Zustand dauerte, ich weiß nicht, zehn Jahre mindestens.“
„He, da muss ich dich ja heftig beklagen. Und ich dachte immer, ich bin der Beklagenswerte von uns beiden. Und wie sagst du? Einmal hat sich der Märchenprinz bei dir eingestellt? War das vor oder nach meiner Zeit?“
Irmi lächelt süß. „Weder noch. Aber ich habe ihn vertrieben. Und erst heute hat er sich mir wieder gezeigt.“
„Oh, ah“, stammle ich geschmeichelt. „Aber in einem Punkt muss ich dir energisch widersprechen. Von alt und hässlich kann bei dir überhaupt keine Rede sein.“
„Geh, du Schmeichler.“
„Wenn ich's dir sage. Viele Jüngere würden sich alle zehn Finger abschlecken, wenn sie nur halb so hübsch und halb so schlank wären.“
„Oh, danke für das Kompliment. Du schaust aber auch blendend aus. Ich hoffe, du bist so gesund, wie du ausschaust. Das ist ja in unserem Alter leider keine Selbstverständlichkeit mehr.“
„Nein, wirklich nicht. Und dass ich gesund bin und gesund ausschaue, habe ich, wenn ich ehrlich sein soll, nur der Kunst der Ärzte zu verdanken. Wäre ich ein paar Jahrzehnte früher auf die Welt gekommen, wäre ich in meinem jetzigen Alter höchstwahrscheinlich schon mausetot.“
„Was sagst du da?“
„Krebs. Prostatakarzinom. Und frage nicht, um welchen Preis ich noch lebe. Denn wenn ich noch einmal ehrlich sein soll, muss ich dir verraten, dass ein Teil von mir seit der Operation tatsächlich mausetot ist. So tot, dass auch kein Viagra hilft. Heute würde mich keine Frau mehr nehmen.“
Irmi errötet lieblich. „O ja“, flüstert sie. „Ich schon.“
„Du schon?“, entfährt es mir. Dann verschlägt es mir die Sprache, und ein paar Herzschläge lang bin ich eine Marmorstatue, eine Sitzstatue aus Marmor, und starre Irmi an wie einen Engel des Herrn, der mir plötzlich erschienen ist; und mich umstrahlt die Herrlichkeit Gottes. Hierauf springe ich auf und tue genau das, wonach es mich schon die ganze Zeit gelüstet: Ich umfasse ihre weichen Wangen, in denen noch immer Eros lauert, und presse meine Lippen auf ihren Mund. Und sie erwidert meine Küsse, und wir küssen uns, als wollten wir all die Küsse nachholen, die wir durch einen menschenfeindlichen Moralkodex, durch den Egoismus einer Mutter, durch die Unbill des Schicksals versäumt haben.
Nachdem wir uns danach lange Zeit verzückt aus unmittelbarer Nähe angeblickt haben – beide können wir offenbar dieses Wunder noch nicht fassen -, beginnt Irmi: „Liebster Benedikt? Erzählst du mir, wohin es dich verschlagen hat, nachdem du mich und den Thesaurus verlassen hast? Und wie es dir in der Folge ergangen ist? Von mir weißt du ja sicher aus den jährlichen Rundbriefen der Thesaurusleitung an ehemalige Mitarbeiter, dass ich bis zu meiner Pensionierung am Thesaurus geblieben bin und sogar Redaktorin geworden bin. Und wie es mir all die Jahre ergangen ist – na ja, das Wesentliche habe ich ja schon erzählt. Und viel gibt's da nicht hinzuzufügen.“