Evolution Bundle. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Детские приключения
Год издания: 0
isbn: 9783401809298
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Sie lag immer noch da und sprach kein Wort. Er überlegte, wie er wohl am besten an sie herankam. Seine bisherigen Versuche waren allesamt gescheitert. Vielleicht sollte er sie irgendwie ablenken? Ihm fiel bloß nicht ein, wie. Doch dann kam ihm der Gedanke. Er war ihr ja noch etwas schuldig. Eine Geschichte.

      Seine Geschichte.

      Er setzte sich neben sie. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger wusste er, wie er anfangen sollte. Er war nicht mal sicher, ob diese Geschichte überhaupt geeignet war, um Lucie aus ihrem Schockzustand zu erlösen. Da ihm aber nichts Besseres einfiel, fing er einfach an.

      »Du erinnerst dich doch bestimmt, dass ich dir noch etwas erzählen wollte«, sagte er. »Über mich und meine Vergangenheit. Nun ja …« Er räusperte sich. »Ich hab schon ein paar krasse Dinge abgezogen – Klauen, Schlägereien, all so was. Aber eine Sache war echt heftig. Also richtig heftig. Willst du wissen, was das war?« Er lächelte gequält. »Klar willst du das wissen. Das war ja der Deal. Du erzählst mir deins, ich erzähl dir meins. Also …«, er atmete tief durch, »mit zwölf bin ich mal auf jemanden mit einem Messer los. Und zwar nicht auf irgendwen. Es war mein Vater.«

      Er bemerkte, dass ihre Augen nicht länger ziellos durch die Gegend wanderten, sondern ihn jetzt ansahen. Ihr Atem ging ruhiger und sie schien zu lauschen.

      »Es ist jetzt knapp vier Jahre her, dass ich meinem Dad ein Küchenmesser hier reingejagt habe.« Er deutete auf das linke Schulterblatt. »Hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihn umgebracht. Zum Glück ist das Messer am Schulterknochen abgebrochen. Nur die Spitze steckte noch drin. Was schlimm genug war.«

      Lucies Augen waren weit aufgerissen. Vermutlich war sie total geschockt. Ihm kamen starke Zweifel, ob er nicht einen riesigen Fehler machte, ihr das zu erzählen. Vor allem jetzt. Vielleicht hatte sie damit gerechnet, dass er ein paar kleinkriminelle Taten gestehen würde, Diebstähle oder so. Aber sicher nicht, dass er tatsächlich versucht hatte, seinen Vater umzubringen.

      »Mein Alter war ein Trinker«, sagte er zur Erklärung. »Er hat sich regelmäßig zugesoffen und dann angefangen, auf meine Mutter loszugehen. An mich hat er sich nicht rangetraut. Ich war mit zwölf schon ziemlich kräftig. Mixed Martial Arts, Streetfights und so.« Er schüttelte den Kopf. »An einem Abend war es besonders schlimm. Ich hörte, wie Mom und Dad sich wieder in der Küche stritten. Es ging mal wieder um Geld. Ich wollte mich heimlich in mein Zimmer schleichen, aber dann habe ich durch den Türspalt gesehen, wie er ausholte und sie schlug. Nicht einfach nur so eine kleine Ohrfeige, sondern richtig heftig und mit voller Wucht.«

      »Oh nein.«

      Jem blickte überrascht auf. Lucie hatte ihre Stimme wiedergefunden! Sie hing jetzt förmlich an seinen Lippen.

      »Hallo Lucie«, sagte er. »Wie geht es dir? Magst du einen Schluck Wasser?« Er hielt ihr seine Trinkflasche vor die Nase.

      »Nicht aufhören«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Erzähl weiter. Du hast auf deinen Vater eingestochen.«

      »Ja«, sagte er. Er hatte einen Kloß im Hals. »Aber nur, weil ich Angst um meine Mutter hatte. Zu Dads Ehrenrettung muss ich sagen, dass er das bis dahin noch nie gemacht hat. Geflucht, geschrien, Geschirr zerdeppert – ja –, aber noch nie richtig zugeschlagen.«

      »Und dann?«

      Jetzt, da er über seinen Schatten gesprungen war und darüber zu reden begonnen hatte, fiel es ihm leicht weiterzuerzählen. Außerdem fühlte er sich wohl in Lucies Nähe, er wusste, dass sie sein Geheimnis für sich behalten würde. »Keine Ahnung, was in diesem Moment mit mir passiert ist, aber ich habe einfach nur noch rot gesehen. Ich bin in die Küche gestürzt. Meine Mutter lag am Boden, mein Vater stand mit erhobener Hand über mir und da … da …«

      »Und da hast du ein Messer genommen und auf ihn eingestochen.«

      Er nickte. »Ja.«

      »Aber du hast doch nur deine Mutter verteidigt.« In Lucies Gesicht war wieder ein wenig Farbe zurückgekehrt. Außerdem schien ihr langsam wärmer zu werden. Sie zog die Decke runter.

      »Ich glaube, du hast richtig gehandelt.«

      »Ich bin mir da nicht so sicher.«

      »Du hattest nicht viel Zeit zum Nachdenken und wolltest helfen.«

      »Vielleicht.« Er nickte nachdenklich. »Andererseits hätte ich ihn auch einfach wegstoßen oder ihn irgendwie anders aufhalten können …«

      Sie schüttelte den Kopf. »Du warst in Panik. Du warst zwölf.« Sie sprach ruhig und deutlich. Fast schon wieder normal. »Und was ist dann passiert?«, fragte sie zaghaft.

      Jem zuckte die Schultern. »Er musste natürlich ins Krankenhaus. Die Polizei kam und nahm alles auf, aber es wurde nichts unternommen. Nach deutschem Recht ist man erst ab vierzehn schuldfähig. Das Familiengericht hat mich aber zu einem Anti-Aggressivitäts-Kurs, gemeinnütziger Arbeit und einem Besuch beim Psychiater verdonnert.«

      »Echt jetzt?« Lucie sah ihn mit großen Augen an. »Und weiter?«

      »Viel ist da nicht mehr zu erzählen. Die Therapeutin diagnostizierte ein Frustrations-Aggressions-Trauma ausgelöst durch eine frühkindliche Depression. So stand es im Bericht.

      Mein Vater und meine Mutter haben sich kurze Zeit später getrennt. Er ging zurück in die USA, Mom mietete uns eine kleinere Wohnung und da wohnen wir seitdem. Ich glaube übrigens, dass die Therapie tatsächlich etwas gebracht hat. Ich habe mich inzwischen viel besser im Griff. Keine Einbrüche mehr, keine Diebstähle.« Er versuchte zu lächeln, spürte aber, wie schwer ihm das fiel. Die Geschichte zerrte immer noch ganz schön an seinen Nerven. Aber wenigstens hatte er es geschafft, Lucie aus ihrem Schockzustand zu erlösen.

      »Danke, dass du mir das erzählst«, sagte sie leise. »Nur eines verstehe ich nicht …«

      »Und das wäre?«

      »Wenn du mit deinem Vater so zerstritten bist, warum willst du ihn dann besuchen?«

      Er dachte darüber nach, wie er es am besten formulieren sollte, dann sagte er: »Ich bin der Meinung, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Zu seiner Schwester hatte ich zwischendurch mal Kontakt. Die hat mir erzählt, dass er eine Entziehungskur gemacht hat und seitdem clean ist. Und immerhin ist er mein Vater. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ihn vor mir. Es gibt Fotos von früher, wo er mir aufs Haar gleicht.«

      Lucie berührte sanft seine Hand. »Trotzdem mutig von dir. Du hast den ersten Schritt gemacht und dazu gehört schon was. Ich wünsche dir echt, dass wir diesem Irrsinn hier bald entkommen, damit du ihm das alles selbst sagen kannst …«

      Sie sah ihn so intensiv an mit ihren grünen Augen, dass er seinen Blick nicht abwenden konnte.

      »Lucie«, sagte er sanft. »Was ist da draußen geschehen?«

      Sie senkte ihren Blick und schwieg. Jem wusste, dass er ihr Zeit geben musste, dass er sie nicht bedrängen durfte. Es verging Minute für Minute, während Lucie auf den Boden starrte und die Jem wie eine Ewigkeit vorkamen.

      Schließlich sah sie ihn wieder an. »Connie ist tot«, sagte sie mit klarer Stimme.

      Jems Kopf ruckte hoch. War er eingenickt? Sah fast so aus. Das schlechte Wetter war davongezogen und es schien schon wieder die Sonne. Lucie war ebenfalls eingeschlafen und hielt dabei immer noch seine Hand.

      Vorsichtig streifte er sie ab und stand auf. Sie sah so zerbrechlich aus und gleichzeitig wunderschön. Er war froh, dass es ihr wieder etwas besser ging.

      Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür und stieg aus.

      Die anderen saßen im Schatten des Busses und schienen die Lage zu besprechen.

      »Na, ausgeschlafen?«, fragte Zoe und lachte.

      »Tut mir leid«, sagte Jem. »War wohl alles ein bisschen viel.«

      »Wie geht es