Langsam rollte er das Rad vor sich her. Seine Nerven waren gespannt wie Klaviersaiten. Ob es nun der Blitz war, dessen zuckender Lichtschein die Wolken unheimlich aufleuchten ließ, oder das Brechen des Donners; jede Sinneswahrnehmung hinterließ bei ihm einen überscharfen Eindruck. Der letzte Rest an Tageslicht ließ die Farben wie in einem Wasserfarbenkasten verschwimmen.
Das Gebüsch vor ihm sah nicht so aus, wie es sollte.
Und tatsächlich! Etwas schob sich daraus hervor. Groß und grau. Seine Augen leuchtend im Regen wie gelbe Stecknadelköpfe.
Bennett blieb stehen und griff nach der Pistole. Seine Beine fühlten sich an wie aus Gummi.
Das Tier reichte ihm etwa bis zur Hüfte und blockierte seinen Weg. So, als wüsste es genau, wohin Bennett wollte. Ein mächtiges Tier mit zottigem, dichtem Fell, über dessen Rücken sich ein markanter schwarzer Streifen zog.
War das wirklich ein Wolf? Hätte genauso gut eine Raubkatze sein können.
Das Biest hatte die Lefzen zurückgezogen und bleckte die Fänge. Als Bennett die Waffe entsicherte, zuckte sein Kopf hoch. Es hatte die Ohren aufgestellt und schien zu lauschen. Bennett spähte ins Unterholz, konnte jedoch nichts erkennen. Er war aber sicher, dass hier irgendwo noch andere Biester steckten.
Das Tier stand einfach nur da und starrte ihn an. Unheimlich.
»Na, was ist jetzt?«, schrie Bennett. »Willst du mich angreifen oder einfach nur blöd hier rumstehen? Wenn du mich nicht durchlässt, werde ich gleich dafür sorgen, dass du es tust.«
Das Tier ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken.
»Na schön, du hast es nicht anders gewollt.« Er hob die Pistole und visierte sein Ziel. Das Biest rührte sich nicht.
Er wollte gerade den Abzug durchdrücken, als ein staubiges Husten erklang. Links war ein zweites Biest aufgetaucht und rechts noch eines. Ein paar Meter weiter dahinter waren noch mehr. Eines nach dem anderen traten die Ungeheuer aus dem Regenvorhang.
Der Lauf der Waffe zitterte. Die Angst schnürte Bennett die Kehle zu. Er musste handeln. Jetzt!
Er zielte zwischen die Augen des Leittiers und versuchte, den Atem anzuhalten. Doch das Zittern blieb.
In diesem Moment hörte er über sich ein Geräusch. Es klang, als würde ein Schwall Wasser über eine Felskante rauschen. Dazu lag auf einmal ein penetranter Fischgeruch in der Luft.
Bennett zwinkerte in den Regen.
Der Himmel sah seltsam aus. Grünlich, gelblich und irgendwie gewölbt. Während er starr vor Schreck nach oben starrte, senkte sich aus der Wölbung ein langer, geschwungener Arm auf ihn herab und legte sich auf seine Schulter.
Grundgütiger, was war das?
Bennett schrie. Er riss die Pistole nach oben und feuerte.
Ein markerschütternder Schrei ertönte. Irgendetwas Grünes, Glibberiges platschte auf ihn herab. Ein zweiter Arm erschien. Dann ein dritter. Sie schlugen ihm die Waffe aus der Hand, umschlangen ihn und rissen ihn mit unbarmherziger Gewalt in die Höhe.
Er verlor den Boden unter den Füßen und ließ vor lauter Schreck die Pistole fallen.
Das Letzte, was er sah, ehe er sein Leben aushauchte, war das Wolfsrudel, das mit interessiertem Blick zu ihm emporschaute, während er, einem Fahrstuhl gleich nach oben sauste.
Jem blieb wie angewurzelt stehen. »Habt ihr das gehört? Den Knall meine ich.«
»Klar«, entgegnete Paul. »Aber was war das?«
»Das waren Schüsse. Sie kamen direkt von dort drüben.« Jem deutete nach links in Richtung der Kreuzung.
»Ist das nicht die Richtung, in die Bennett und Jaeger gegangen sind?«, fragte Olivia.
»Vielleicht sollten wir mal nachsehen«, schlug Zoe vor.
»Kommt nicht infrage«, stieß Katta aus. Seit dem Angriff der Vögel war sie nur noch ein Nervenbündel. »Ich gehe keinen Meter weiter als nötig. Ich will nur noch zurück in den Bus und zu den anderen.«
»Aber vielleicht stecken sie in Schwierigkeiten«, gab Zoe zu bedenken. »Und wenn die beiden in Schwierigkeiten stecken, tun wir es auch. Denn ohne Reserverad kommen wir hier nicht weg.«
»Trotzdem«, sagte Katta. »Im Gegensatz zu uns haben sie eine Waffe. Die werden schon alleine zurechtkommen.«
Jem überlegte. »Teilen wir uns doch auf«, schlug er vor. »Wer mitwill, soll mir folgen, der Rest geht zurück zum Bahnhof.«
»Ich gehe mit Jem«, sagte Marek und stellte sich neben ihn.
»Nein, das wirst du nicht tun«, zischte Katta. »Du bleibst gefälligst bei mir! Wegen dir stecke ich überhaupt in dieser Scheiße. Ich hätte euch echt alleine in die USA fliegen lassen sollen.« Sie funkelte Zoe und Marek finster an, so, als wäre es ihre Schuld, dass sie jetzt in der Klemme steckten.
Einen Moment lang starrte Marek sie wütend an, denn knickte er ein. »Na gut. Dann also ohne mich«, sagte er. »Passe ich halt auf die Ladys auf.«
Jem hätte am liebsten laut aufgelacht. Dieses Gehabe war einfach der Wahnsinn!
»Auf mich brauchst du nicht aufzupassen«, entschied Zoe. »Ich werde Jem begleiten.«
»Aber …« Katta riss die Augen auf. »Aber du musst bei mir bleiben. Du bist meine Freundin.«
»Deine Freundin ja, aber nicht deine Mutter.«
»Ich gehe auch mit Jem«, sagte Olivia. »Auf die Ladys aufpassen, pffft …«
»Dann … dann werde ich wohl auch besser mitkommen«, meinte Arthur kleinlaut und schielte dabei in Olivias Richtung. »Wenn’s brenzlig wird, ist es vielleicht besser, wenn wir M.A.R.S. bei uns haben. Was ist mit dir, Kollege?«
Paul blickte auf seine Fußspitzen. »Ich weiß nicht …« Er sah aus, als wolle er am liebsten im Boden versinken. »Der Angriff vorhin war echt heftig«, sagte er. »Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne zum Bahnhof zurückgehen …«
»Kein Problem.« Jem nickte ihm zu. »Geh du mit Marek und Katta. Wir treffen uns dann beim Bus. Kommt jetzt, wir müssen uns beeilen.«
Er ging voran.
Der Regen klatschte wie aus Eimern auf sie herab. Die Umrisse der Hochhäuser verschwammen zu blinden Kanten. Die Wolkendecke war so dicht, dass die oberen Stockwerke wie abgeschnitten aussahen. Der Boden war zu knöcheltiefem Matsch aufgeweicht.
Jem presste die Lippen aufeinander. Weltuntergang. Er spürte, dass sich eine unsichtbare Macht wie eine eiserne Faust um sie zusammenballte. Dass sie die Stadt so schnell wie möglich wieder verlassen sollten.
Dicht neben einer steil aufragenden Hochhausfassade entdeckten sie Jaegers Pistole. Sie lag halb vergraben im Matsch. Daneben lagen Bennetts zerfetzte Uniformjacke und das Holotalkie. Jem klaubte das Gerät aus dem Matsch und drückte den Knopf. Er schüttelte den Kopf. »Tot.«
Jem deutete nach rechts. »Seht mal dort drüben an der Hausfassade. Sieht aus wie ein Reifen.«
Gemeinsam gingen sie rüber. Es war tatsächlich ein Reserverad. Größe und Form passten zu ihrem Bus.
»Wo stecken denn die beiden?«, fragte Zoe. »Kann doch nicht sein, dass die in der kurzen Zeit verschwunden sind.«
»Wenn wir das wüssten …« Jem hob die Hände, formte sie zu einem Trichter und rief: »Bennett, Jaeger, sind Sie hier irgendwo? Geben Sie uns Antwort, wenn Sie uns hör…« Ein Blitz, gefolgt von krachendem Donner, schnitt ihm das Wort ab. Er verstummte.
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