»Tja, Leute, das war’s wohl«, sagte Bennett zerknirscht. »Ich fürchte, unsere Reise ist hier zu Ende.«
»Soll das ein Witz sein?«, rief Jem. »Wir haben es ja noch nicht mal richtig versucht.«
»Und wie gedenkst du weiterzufahren, Junge?«, raunzte Jaeger ihn an. »Lässt du unseren Bus durch einen Zaubertrick über die Barriere fliegen?«
Unter Jaegers Achseln hatten sich mächtige Schweißflecken gebildet. Er war tatsächlich noch übellauniger und miesepetriger als bei ihrer Abfahrt.
»Ich wüsste da vielleicht noch etwas anderes.« Jem borgte sich Pauls Karte aus, verglich die Realität mit der Abbildung und tippte auf die betreffende Stelle.
»Die Brücke vor uns gehört zum Highway E-470«, sagte er. »Er kreuzt an dieser Stelle den Peña Boulevard und verläuft in Richtung Süden weiter. Wenn wir es links die Böschung hochschaffen, können wir weiterfahren, bis wir in etwa zwanzig Kilometern die Interstate 70 schneiden. Dort biegen wir dann rechts ab und wären wieder auf dem richtigen Kurs. Wenn Sie mal schauen wollen …« Er hielt den beiden Männern die Karte entgegen.
Der Sky Marshal griff danach und studierte den Plan. »Mag sein, Junge«, grummelte er. »Allerdings löst das nicht unser Problem. Wie sollen wir auf die linke Seite kommen?«
»Mein Name ist Jem. Und ich werde dafür sorgen, dass wir das schaffen.« Er wandte sich seinen Freunden zu. »Kommt. Und bringt M.A.R.S. mit.«
Arthur gab dem Roboter ein paar Befehle und schon setzte er sich mit schweren Schritten in Bewegung. Jem trat sicherheitshalber ein Stück zur Seite.
Der Roboter hielt an. »Bereit zur Arbeit.«
Jem richtete seine Aufmerksamkeit auf die Leitplanken. »Kannst du die aus dem Weg schaffen? Es ist wichtig, dass wir dort durchkommen, verstehst du?«
»Ja.«
»Dann versuch mal dein Glück.«
Ehe Jem sich versah, streckte M.A.R.S. seinen rechten Arm aus, klappte die Hand weg und brachte ein Werkzeug zum Vorschein, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Kreissäge aufwies.
»Bitte zurücktreten. Es besteht Gefahr.«
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, fraß sich die Kreissäge schon ins Metall. Funken stoben umher. In null Komma nichts hatte M.A.R.S. die Leitplanke an zwei Stellen durchgesägt und beiseitegeschafft.
Jem hätte nicht gedacht, dass der Roboter ihnen gleich zu Beginn ihrer Reise eine solche Hilfe sein würde. Es war echt der Wahnsinn, wie schnell er arbeitete und sich bereits an der nächsten Leitplanke zu schaffen machte.
Das Getriebe lief auf Hochtouren. Jem stieg der Geruch von versengten Kabeln in die Nase.
Der Blechmann warf die Zwischenstücke zur Seite und watschelte zur anderen Fahrbahn hinüber. Dort wiederholte er die Prozedur.
Keine fünf Minuten später war der Weg frei. M.A.R.S. räumte die letzten Teilstücke zur Seite, befreite den Untergrund von Gestrüpp und Unterholz und kehrte dann zu ihnen zurück.
»Befehl ausgeführt.«
»Das … das hast du sehr gut gemacht«, sagte Bennett beeindruckt. »Also gut, vielen Dank euch allen. Wie es aussieht, kann die Fahrt nun doch weitergehen. Nehmt wieder eure Plätze ein.«
Jem wartete, bis M.A.R.S. eingestiegen war, und folgte ihm dann. Ehe die Tür zuging, warf er noch einen letzten Blick zurück. Eine Gruppe violetter Falter hatte sich auf eine der Trompetenblüten niedergelassen. Sie hatten gerade damit begonnen, nach Nektar zu saugen, als aus dem Inneren der Blüte ein zungenartiger Fortsatz hervorschoss und sie mit einem schmatzenden Geräusch einsaugte.
Die Fahrt führte sie tiefer und tiefer in die unheimliche Seenlandschaft. Lucie kam es vor, als wären sie statt in die Zukunft in die Urzeit gereist. Alles war so dicht bewachsen, dass man glauben konnte, hier hätten niemals Menschen gelebt. Bäume, Sträucher und Wasserflächen, soweit das Auge reichte. Hin und wieder lugten die Dächer halb zerfallener Häuser oder verbogene Hochspannungsmasten aus dem Dickicht hervor. Doch das waren Nebensächlichkeiten. Der Großteil des Geländes bestand aus Teichen, Tümpeln oder größeren Seen. Lucie wusste nicht viel über den Bundesstaat Colorado, aber dass er hier wie in den sumpfigen Everglades aussehen sollte, davon hatte sie noch nie gehört.
Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn plötzlich der Hals eines Dinosauriers emporragen würde. Eines Brachiosaurus vielleicht oder eines Diplodocus. Die Idee erschien ihr gar nicht so abwegig. In einer Welt, die aus den Fugen geraten war, konnte selbst das möglich sein, oder? Die Natur hatte die Erde zurückerobert und schon bald würden auch die letzten Reste menschlicher Errungenschaften zerfallen sein.
Doch statt langer Hälse und tonnenschwerer Leiber erblickte Lucie Vögel. Massen von Vögeln. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Schwärme umso größer wurden, je weiter sie nach Süden fuhren. Sie hatte sogar den Eindruck, als würden sie dem Bus folgen und sie beobachten – so wie die Wölfe letzte Nacht. Was natürlich Unsinn war.
»Seltsam, oder?« Jem riss sie aus ihren Gedanken. »Die Vögel, meine ich. Sieht aus, als würden sie uns hinterherfliegen.«
»Bestimmt Einbildung«, murmelte Lucie. Es beunruhigte sie, dass ihm das ebenfalls aufgefallen war.
Er blickte besorgt nach oben. »Einbildung? Na, ich weiß nicht. Ich finde es ziemlich eindeutig, dass ihre Zahl zunimmt.«
»Es sind nur Vögel«, sagte Lucie. »Warum sollten die sich für uns interessieren?«
»Ja, warum …?« Jem beobachtete den Schwarm noch eine Weile, dann zuckte er die Schultern und wandte sich ab. »Ganz wohl ist mir trotzdem nicht. Ich finde, wir sollten das weiter im Auge behalten.« Er lächelte ihr zu. »Schau mal, es gibt auch gute Nachrichten.« Er deutete auf die Karte auf seinem Schoß. »In der letzten halben Stunde sind wir von hier bis hier gekommen. Wenn das so weitergeht, müssten wir eigentlich bald … ah, da vorne ist sie schon, siehst du?« Er deutete aus dem Fenster.
Lucie presste die Nase an die Scheibe. Zwischen den Bäumen war eine zweite Autobahn zu erkennen, die ihre kreuzte. Ein paar Schilder kamen in Sicht.
»Hier müssen wir raus«, rief Jem nach vorne.
»Schon gesehen«, antwortete der Kapitän. »Danke für die Erinnerung. Ich ziehe jetzt rüber. Haltet euch fest, es könnte ein bisschen holperig werden.«
Er griff ins Lenkrad und zog den Bus auf die rechte Seite. Rumpelnd fuhr er die Abzweigung hinab.
Diesmal hatten sie Glück, die Fahrbahn schien einigermaßen intakt.
Die Stadt war jetzt nicht mehr weit weg. Lucie konnte die schneebedeckten Gipfel dahinter erkennen. Ein faszinierender Anblick. Er erinnerte sie an einen Ausflug, den sie letzten Winter mit ihren Eltern gemacht hatte. Sie hatte das erste Mal in ihrem Leben auf Skiern gestanden.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, dass Jem sie ansah. Als sie den Blick erwiderte, wandte er sich schnell ab.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ach nichts«, sagte er. War das ein roter Schimmer auf seinen Wangen?
»Komm schon. Du hast mich doch angesehen.«
»Schon, ja …« Er knabberte auf seiner Unterlippe. »Ich habe mich gefragt, woran du wohl gerade denkst.«
»Ich habe mir ausgemalt, was wohl passiert wäre, wenn wir den Flieger tatsächlich verpasst hätten. Wenn die Signalstörung