»Magst du es mir erzählen? Wir können uns doch da drüben auf die Bank setzen.«
Er zögerte.
»Ach, komm schon.« Sie nahm seine Hand und zog ihn zu der Bank. »Dann erzähle ich dir auch was von mir.« Sie lächelte schüchtern. Normalerweise redete sie nicht gerne über sich, schon gar nicht über die eine Sache, die ihr das Leben manchmal so schwer machte. Aber sie vertraute Jem und hatte das Gefühl, dass er sich öffnen würde, wenn sie es auch tat.
Offenbar war er neugierig geworden. Mit hochgezogener Braue sagte er: »Echt jetzt? Du zeigst mir dein Geheimnis, ich zeig dir meins? Hast du dir das so vorgestellt?«
Sie lief rot an. »So ungefähr, ja.«
»Okay, Deal.« Er grinste breit. »Dann schieß mal los.«
Sie schluckte. Sie merkte, dass es ihr immer noch schwerfiel, darüber zu reden. »Na ja, dir ist ja sicher schon aufgefallen, dass ich manchmal etwas … seltsam bin.«
»Du scheinst irgendwie einen Farb-Tick zu haben.«
»Das ist kein Tick«, erklärte sie. »Sondern eine Erbkrankheit. Nennt sich Synästhesie.«
Er runzelte die Stirn. »Noch nie gehört. Und was bewirkt sie?«
»Zum Beispiel, dass ich deinen Namen hellgrün sehe. Nicht deine Person, die ist gelb, nur deinen Namen. Kein leuchtendes Grün, eher so ein verwaschenes Petersiliengrün.«
»Meinen … Namen?« Jetzt sah er völlig verwirrt aus. Kein Wunder. Synästhesie war den wenigsten ein Begriff, obwohl das Phänomen recht verbreitet war. Ungefähr jeder Zwanzigste hatte es.
»Ja«, sagte sie. »Es ist nicht so, dass das Wort jetzt irgendwie grün eingefärbt über deinem Kopf tanzen würde. Es ist mehr so, dass Name und Farbe für mich dasselbe sind. Das gilt übrigens auch für einzelne Buchstaben. J hat für mich die Farbe von Karamellpudding, vor allem, wenn man es weich spricht, so wie bei Jem.«
»Und wie ist es mit anderen Buchstaben?«
Sie zuckte die Schultern. »Ganz unterschiedlich. T zum Beispiel ist schieferfarben. H ist wässrig wie eine Pfütze, das I leuchtet wie eine Kerze. Ich sehe die Farben aber nicht wirklich, ich spüre sie eher. Aus den Farben der Buchstaben setzt sich dann die Farbe eines Wortes zusammen.« Sie lächelte. »Manchmal passen Mensch und Name überhaupt nicht zusammen. Nimm zum Beispiel Justin Bieber. Gut, er ist jetzt auch älter geworden, aber er war immer so ein Sonnyboy, mit blonden Haaren und so einem ansteckenden Lächeln. Dazu so ein dunkler schieferfarbener Name wie Justin – ich finde, das geht gar nicht.«
Jem stand der Mund offen. Es sah aus, als fiele es ihm schwer, sich vorzustellen, in was für einer Welt sie lebte. Dabei hatte sie gerade mal an der Oberfläche gekratzt. Wenn sie ihm jetzt noch erzählte, dass sie bei Tönen unterschiedliche Geschmäcker im Mund verspürte und Zahlen einen bestimmten Klang hatten, dann würden er sie bestimmt für völlig verrückt halten. Aber sie wollte nicht, dass er das tat. Sie wollte, dass er sie mochte.
»Okaaay«, sagte Jem lang gezogen. »Ich weiß zwar nicht, ob ich das alles verstanden habe. Zumindest erklärt das ein paar Dinge, die mir bisher ein bisschen seltsam vorkamen.«
»Sorry.« Lucie senkte schüchtern ihren Blick. »Ich erzähle das normalerweise auch nicht überall herum. Genau genommen gibt es nur ganz wenige, die es wissen.«
»Echt jetzt?«
Sie nickte. »Als ich klein war, dachte ich, dass jeder diese wunderschönen Farben sähe. Die Welt war wie ein Zauberland. Dass ich mich von anderen Menschen unterscheide, wurde mir erst in der Schule klar. Als die Lehrerin in der ersten Klasse fragte, was denn eins plus eins sei, antwortete ich voller Überzeugung ›Grün!‹. Du kannst dir vorstellen, wie sie mich angesehen hat.«
»Die hat sicher gedacht, dass du nicht alle Latten am Zaun hast, oder?«, sagte er grinsend.
»So ähnlich«, erwiderte Lucie. »Allerdings war das anfangs gar nicht witzig. Für mich war klar, dass ich anders war und deshalb habe ich diese Seite vor den anderen geheim gehalten.«
»Und warum erzählst du es mir?«, wollte Jem wissen.
»Nun, ich …« Lucie schluckte. Sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Du bist nett und irgendwie bist du ja auch ein bisschen … anders.« Sie verstummte.
»Wegen meiner Hautfarbe?«
Sie nickte.
»Ah, jetzt kapier ich …« Er lächelte. »So gesehen hast du vermutlich sogar recht. Na schön, du hast deinen Teil der Abmachung eingehalten, jetzt bin ich wohl dran …«
Er räusperte sich.
»Na, ihr Turteltäubchen.«
Lucie fuhr herum und sah Marek mit Katta und Zoe im Schlepptau aus dem rechten Seitenflügel auf sich zukommen. Zoe hatte ihren Bogen umgeschnallt und sah aus wie eine Amazone.
Auf Kattas Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Ich hoffe, wir stören euch nicht?«
»Keineswegs«, sagte Lucie hastig. Mann, war ihr das peinlich. Sie konnte nur hoffen, dass die drei bald wieder verschwanden. Aber so schnell ließ Katta sich nicht abwimmeln. »Ihr zwei seht ja so ernst aus. Worüber redet ihr denn? Oder ist das geheim?« Sie lachte affig.
»Lagebesprechung«, gab Jem zur Antwort und Lucie musste grinsen. »Wir wollen gleich mal raus und uns ein bisschen umsehen.«
Auf Mareks Gesicht erschien ein Lächeln. »Das ist das erste vernünftige Wort, das ich aus deinem Mund höre, Jem.«
»Also, worauf warten wir noch?« Jem stand auf. »Wir sagen Connie und den anderen Bescheid und dann geht es los.« Er klopfte Marek auf die Schulter und gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg ins Untergeschoss.
Lucie blickte ihnen nach. Und was war jetzt mit ihrer Abmachung? Jem hatte ihr doch etwas versprochen. Sie hatte fast den Eindruck, dass ihm die Unterbrechung gar nicht mal so unrecht war. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. Manchmal wusste sie bei ihm einfach nicht, woran sie war.
Gemeinsam verließen sie das stickige Dämmerlicht des Bahnhofs und traten hinaus ins Freie. Jem kniff die Augen zusammen, weil die Sonne so blendete. Die Temperaturen hatten merklich angezogen. Grillen und Zikaden zirpten sich die Seele aus dem Leib. Irgendwo links musste ein Tümpel sein, in dem einige extrem große Frösche hockten. Ihr Quaken warf ein Echo an die gegenüberliegende Häuserwand.
»Also gut«, sagte Marek. »Wohin gehen wir?«
Ehe Jem etwas antworten konnte, meldete sich Paul zu Wort.
»Ich hätte da eine Idee«, sagte er. »Hab ich vorhin im Reiseführer entdeckt. Allerdings müssten wir dafür einen ziemlichen Fußmarsch hinlegen …«
»Ist doch scheißegal«, sagte Marek. »Hauptsache, es passiert endlich mal was. Also, wohin geht es? Komm schon, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«
Jem nervte es, dass Marek sich so aufspielte, aber er hatte keine Lust auf Ärger und hielt lieber die Klappe.
Paul holte den Reiseführer raus und blätterte eine bestimmte Seite auf. Eine kleine Innenstadtkarte war dort zu sehen.
»Also wir sind hier.« Er deutete auf die Stelle, an der der Bahnhof war. »Wenn wir die 16th Street in Richtung Civic Center Park gehen, kommen wir nach knapp einem Kilometer zu einem Park. Das ist sozusagen das Herz der Stadt.«
»Ja und was gibt es dort so Besonderes?«
»Eine Bücherei«, erklärte Olivia und band ihre Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Nicht irgendeine Bücherei, die Public Library.«
Marek runzelte die Stirn. »Warum sollte ich dahin wollen?«
Jem