»Dieser Bus ist eine fahrbare Solarzelle«, erläuterte Jem. »Wenn ihr ganz nah herantretet, seht ihr unter dem Lack ein feines Netzwerk unzähliger Leiterbahnen. Es sieht aus wie ein Muster aus Fischgräten. Bei den anderen Autos ist das genauso. Hab ich in Lucies Zeitschrift gelesen.«
»Das heißt also, der Bus wird sich selbst aufladen, wenn er draußen in der Sonne steht«, schlussfolgerte Arthur.
»Ja, und?« Marek schien immer noch nicht zu verstehen. War er wirklich so langsam oder stellte er sich absichtlich dumm?
»Wenn es uns gelänge, diesen Bus ins Freie zu befördern, wäre unser Problem gelöst«, erklärte Jem. »Der Bus würde sich praktisch von alleine aufladen.«
»Ah, jetzt verstehe ich«, sagte Marek. »Nette Idee. Leider hat sie einen Haken.«
Warum konnte dieser Typ seine Meinung nicht einfach mal für sich behalten? »Und der wäre?«, fragte Jem genervt.
Marek zerrte an der Tür. »Er ist verriegelt. Ohne Schlüssel kommen wir da bestimmt nicht so einfach rein. Von der Zündung und dem Anlasser will ich gar nicht reden …«
»Lass das mal meine Sorge sein«, unterbrach ihn Jem. »Ich habe Übung in so was.«
»Ist das so?« Marek verzog spöttisch den Mund.
»Allerdings.«
Lucies Blicke brannten sich in sein Gesicht. Ihm fiel gerade auf, dass es vor allem sie war, die er beeindrucken wollte.
Er ging nach vorne und zog sein Spezialmesser aus der Hosentasche. Ein Werkzeug, das ihm in der Vergangenheit viele gute Dienste geleistet hatte. Eine Vergangenheit, auf die Jem nicht besonders stolz war. Eigentlich hatte er geschworen, damit aufzuhören, aber das Schicksal schien andere Pläne mit ihm zu haben. Wenn er sich nur auf diese Weise Respekt verschaffen konnte, dann sollte es eben so sein.
Er setzte die Klinge an die entsprechende Stelle und drückte zu.
*
Lucie beobachtete, wie er in die Tasche griff und ein merkwürdig aussehendes Werkzeug herauszog. Fast wie ein Taschenmesser, aber zusätzlich mit seltsam geformten Klingen und Haken. Neugierig trat sie näher.
Jem hatte ein schmales rechteckiges Metallblatt gewählt, steckte es in das Schloss, und ehe sie mitbekam, was genau er da tat, machte es Klick und die Tür sprang auf.
Sie sah ihn erstaunt an. »Na, das ging ja fix.«
»Jahrelange Übung«, erwiderte er knapp. Er schob die Türen auseinander und stieg ein. Die Federung ließ den Bus leicht wippen.
»Woher kannst du solche Sachen?«, flüsterte sie, als sie ihm folgte.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du vieles von mir noch nicht weißt.« Ihr fiel auf, dass er es vermied, ihr in die Augen zu sehen. Schämte er sich etwa?
»Bist du ein Spezialist im Aufbrechen von Autos?«
»Nur ein kleines Hobby von mir. Na ja, zugegebenermaßen nicht gerade das tollste …« Jem setzte sich hinter das Lenkrad und schien nach der Zündung zu suchen. Doch anscheinend war da keine. Lucie sah weder Schloss noch Startknopf oder Ähnliches. Was umso kniffliger war, als Jem versuchte, die Handbremse zu lösen. Offenbar war sie mit der Zündung gekoppelt. Jem rüttelte daran herum, dann stieß er einen leisen Fluch aus.
»Was ist los?« Sie konnte seine Nervosität beinahe körperlich spüren. Es sah aus, als würden kleine orangefarbene Blitze über seine Haut huschen.
»Nichts zu machen. Sitzt völlig fest.«
»Ich wusste doch gleich, dass das eine Schwachsinnsidee ist«, rief Marek von draußen. »Der Plan war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
»Sei doch mal still«, fuhr Lucie ihn an.
Jem tauchte unter der Lenksäule ab, um dort die Kunststoffverkleidung zu lösen und den dahinterliegenden Kabelstrang freizulegen. Nicht schlecht, dachte Lucie. Sie war sich sicher, dass er das nicht zum ersten Mal machte. Hoffentlich hatte er Erfolg. Wenn auch nur, damit Marek endlich den Mund hielt.
Nach einer Weile tauchte Jem wieder auf.
»Ich glaube, ich hab’s«, sagte er mit Blick auf das Display. »Verbindung steht, Zündung ist kurzgeschlossen.«
Lucie sah schwach leuchtende Ziffernfolgen über die gläserne Oberfläche huschen. Er schien es tatsächlich geschafft zu haben.
Jem nickte zufrieden. »Glück im Unglück«, sagte er. »Wie es aussieht, sind die Batterien nicht tief entladen. Ein bisschen Saft ist noch drin. Mal schauen, ob er sich bewegen lässt …«
Er senkte seinen Fuß aufs Gaspedal. Ein sanftes Summen ertönte und der Bus bewegte sich um wenige Zentimeter. Angespornt von diesem ersten Erfolg, gab Jem noch etwas mehr Gas. Und tatsächlich: Der Bus fuhr los. Langsam zwar, aber immerhin.
Jem drehte noch eine Schleife, dann hielt er an. Er wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und lächelte ihr zu. Seine dunklen Augen strahlten und die Anspannung, unter der er gerade noch gestanden hatte, schien langsam von ihm abzufallen. Auch Lucie fiel ein Stein vom Herzen. Wenn sie es mit diesem Bus tatsächlich bis nach Denver schafften, hätte ihr Martyrium sicher bald ein Ende.
»Schlösser knacken, Autos kurzschließen – ich will lieber nicht wissen, woher du das alles kannst«, flüsterte sie. »Aber so etwas ist ja im Zweifelsfall ganz nützlich.«
»Und was jetzt?«, fragte Marek und stieg zu ihnen in den Bus. »Um hier rauszukommen, musst du über diese Rampe da fahren. Schaffst du das?«
»Das werden wir ja gleich sehen.« Jem grinste. »Oder willst du es vielleicht probieren?«
»Ich bin schon Auto gefahren, als ihr noch mit Lego gespielt habt«, entgegnete Marek großspurig. »Kein Problem für mich.«
»Na dann bitte schön!« Jem räumte den Platz und sprang aus dem Bus. Lucie folgte ihm und stellte sich mit ihm zu Arthur, Paul und den Mädchen, die die Aktion aufmerksam verfolgt hatten.
»Genial«, sagte Arthur. »Ich hätte nicht gedacht, dass das klappt.«
»Passt schon«, murmelte Jem und hielt seinen Blick auf den Bus gerichtet.
Lucie hatte den Eindruck, dass es ihm nicht unrecht war, wenn jetzt mal jemand anders die Verantwortung übernahm. Sie beobachteten, wie Marek das Fahrzeug wendete und die Rampe hinauffuhr. Mit leuchtenden Rücklichtern verschwand er hinter der nächsten Biegung.
»Und was weiter?«, fragte Lucie.
»Jetzt werden wir uns alle ein bisschen die Hände schmutzig machen. Putzen, schrauben, basteln. Helft ihr mir?«
Lucie lachte. »Was für eine Frage.«
Jem und die anderen hatten lange überlegt, wen sie alles dazuholen sollten, wenn sie den Bus flottgemacht hatten und von ihrem Plan berichten wollten. Sie mussten eine Auswahl treffen, schließlich konnten sie unmöglich alle dreihundert Passagiere zusammentrommeln. Abgesehen davon wollten sie ihr Vorhaben eigentlich auch nicht gleich an die große Glocke hängen. Inzwischen hatten sich mehrere Gruppen gebildet, die unterschiedliche Ansichten vertraten. Ein paar Leute hatten sich offenbar mit ihrem Schicksal abgefunden und vertrauten darauf, dass irgendwann schon Hilfe kommen würde. Andere waren auf eigene Faust losgezogen, um irgendetwas herauszufinden, und bislang nicht zurückgekehrt. Und ein Großteil der Passagiere klammerte sich an Bennett, als wäre er der rettende Fels in der Brandung. Auch wenn der Kapitän mit der Situation genauso überfordert war wie alle anderen, glaubten die Leute offensichtlich, dass er einen Masterplan in der Hinterhand hatte.
Jem dachte, dass es wahrscheinlich normal war, sich in der Not an irgendwem festzuklammern, aber ob dieser Jemand unbedingt Bennett sein musste, bezweifelte er.
Nach einigen Diskussionen