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Christian Schopenbrink stand bereit, wie er es versprochen hatte. Viel zu früh schon, also noch deutlich vor Einbruch der Dunkelheit. Doch kaum waren die Straßenlichter angezündet worden, als sich am Hintereingang des Hauptwohnsitzes des Hansehauses Brinkmann etwas rührte.
Christian stand so, dass er es sehen konnte: Da trat nicht nur Adele hervor, verkleidet im Gewand einer Bediensteten, sondern auch... Hermann Brinkmann!
Sie winkten sich sogar auch noch zum Abschied zu, bevor Adele genau in die Richtung eilte, in der sie Christian vermutete.
Am liebsten wäre Christian jetzt davon gelaufen, denn er war ziemlich erschrocken über die Beteiligung des alten Brinkmanns. Was hatte es denn damit auf sich? Sah das jetzt wirklich danach aus, als würde er seiner Enkeltochter zur Flucht aus dem eigenen Hause verhelfen – oder war das jetzt nur eine Falle für ihn, Christian Schopenbrink?
Bevor er sich noch entscheiden konnte, hatte Adele ihn jedoch schon erreicht. Sie strahlte ihn regelrecht an.
„Danke, Christian, dass du gekommen bist! Du weißt ja gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Und du bist wirklich bereit, mich aufzunehmen?“
Er nickte ihr nur zu und wandte sich zum Gehen. Dabei riskierte er noch einen vorsichtigen Blick hinüber zum Hintereingang, der für gewöhnlich als Dienstboteneingang diente.
Hermann Brinkmann war schon längst verschwunden, und dort rührte sich nichts mehr.
„Komm einfach mit!“, bat Christian und lief voraus. Adele folgte ihm ohne ein weiteres Wort.
Auch unterwegs sprachen sie nicht miteinander. Adele hielt sich zurück. Sie beobachtete Christian und fragte sich im Stillen, was dessen Schweigen wohl zu bedeuten hatte.
Bis sie die Hauptwohnstätte des Hansehauses Schopenbrink erreicht hatten, genauer den dortigen Dienstboteneingang.
Bevor sie eintraten, blieb Christian kurz stehen und wandte sich Adele zu.
„Dein Großvater hat dir tatsächlich geholfen, aus seinem eigenen Hause zu fliehen - oder wie soll ich das verstehen?“
„Ja!“, bestätigte sie. „Ich bin heilfroh darum, denn dadurch konnte ich Edith da heraus halten. Er wird das sozusagen auf seine eigene Kappe nehmen.“
„Und weiß er überhaupt, wohin du gehen willst?“
„Nein, natürlich nicht! Damit wollte ich ihn nicht auch noch zusätzlich belasten.“
„Dann weiß also außer Edith niemand, dass ich auf dich gewartet habe, um dich hierher zu geleiten?“
„Niemand sonst!“, bestätigte Adele.
Christian atmete auf, sichtlich erleichtert.
„Sei mir nicht böse, wenn mich das jetzt tatsächlich irritiert hat, denn das hätte ich von deinem Großvater niemals erwartet. Aber wenn du es sagst... Eigentlich umso besser dann. Wenn niemand weiß, dass wir dich in unserem Hause aufnehmen, gewinnen wir zumindest Zeit, bis deine Großmutter irgendetwas unternehmen kann.“
Erst nach diesem kurzen Gespräch öffnete er den Diensteingang und ließ Adele vor sich eintreten.
In dem Raum dahinter, der als eine Art Zwischenlager in der Versorgung des Hauses diente, erwartete Adele eine Überraschung, die dermaßen groß war, dass sie größer und schöner überhaupt nicht mehr hätte sein können:
Ihre wahrhaft große Liebe Johann wartete hier bereits auf sie!
Zunächst standen sie sich nur gegenüber und konnten es anscheinend überhaupt nicht fassen. Sie konnten das Glück nicht fassen, das sie allein schon bei ihrem gegenseitigen Anblick erfüllte.
Und dann fielen sie sich in die Arme und herzten und küssten sich. Dabei vergaßen sie völlig ihre Umgebung. Sie bemerkten gar nicht, dass Gordula und ihr Bruder Christian dem beiwohnten und sie glücklich lächelnd dabei beobachteten. Dieses Glück der beiden war regelrecht auf sie über gegangen. Es war ansteckend.
Und sie sahen dabei selber, mit eigenen Augen, wie groß die Liebe zwischen den beiden wirklich war. Das war ja gerade so, als hätte man zwei passende Hälften wieder zu einem gesunden Ganzen zusammen gefügt.
Ja, es war unbestreitbar: Adele und Johann waren füreinander bestimmt! Allen Gewalten zum Trotz. Und Gordula und Christian wussten, dass sie alles tun würden, um dieses Glück der beiden zu unterstützen. Ebenfalls allen Gewalten zum Trotz.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand so recht wusste, wie es denn tatsächlich weitergehen sollte. Nicht nur mit den beiden, sondern eben auch wegen Margarethe Brinkmann und nicht zuletzt den oberen Herren Hieronymus Schopenbrink und Georg Wetken, die sicherlich auch noch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hatten.
Oder hatte da vielleicht doch schon jemand eine Idee?
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Johann hatte die Wartezeit, erfüllt von Sehnsucht nach seiner Geliebten, die er bald in die Arme schließen würde, falls ihr die Flucht tatsächlich gelang, in der Tat genutzt. Er hatte immer wieder ganz verschiedene Möglichkeiten insgeheim durchgespielt:
Falls Adele tatsächlich hier im Hause Schopenbrink aufgenommen wurde und vorausgesetzt, Hieronymus Schopenbrink würde letztlich tatsächlich seine Zustimmung dazu geben... Dann würde er Adele nur hier treffen können, in aller Heimlichkeit. Indem er seinem Vater gegenüber vorgab, sich mit Gordula zu treffen, um in Wahrheit mit Adele zusammen kommen zu können.
War das wirklich etwas, was sie beide auf Dauer erreichen wollten?
Und natürlich würde Margarethe Brinkmann das früher oder später in Erfahrung bringen. Sie würde zunächst wohl alles tun, um es nur ja nicht offiziell werden zu lassen, dass ausgerechnet ihre Enkelin Adele abtrünnig geworden war, um in einem anderen Hansehaus Schutz zu suchen. Das war für sie auf jeden Fall wie eine persönliche Niederlage sondergleichen, was sie allerdings niemals ohne Gegenmaßnahmen hinnehmen würde, selbst wenn es ihr nicht gelingen sollte, die Verbreitung dieser Nachricht zu unterbinden.
Adele und Johann würden also bei aller Heimlichkeit auch das Hause Schopenbrink in Gefahr bringen. Das war unumgänglich. Und es war kaum auszumalen, was das für dieses Hansehaus bedeuten konnte, denn die Methoden von Margarethe Brinkmann waren halt so berüchtigt wie schlimm, was eben jeder wusste.
Gab es hierzu denn tatsächlich so etwas wie eine Alternative? Und wie konnte diese überhaupt aussehen?
Um diese Frage zu beantworten, war Johann eine tollkühne Idee gekommen, und er konnte es kaum erwarten nach der überaus herzlichen Begrüßung mit Adele, alle endlich daran teilhaben zu lassen. Obwohl er davon ausgehen musste, dass sie ihn zunächst für völlig irre geworden ansehen würden, egal wie vorsichtig er begann mit der Erläuterung seiner Idee:
„Wir haben noch vor Stunden sicher