3. Karline Schlosser
Ich war in meinen ersten Kindheitsjahren in der Unterstadt meist vom Morgen bis zum Abend bei Karline. Sie war eine nicht mehr berufstätige kinderlose „alte Jungfer“, und ich war ihr Hätschelkind. Wann immer es das Wetter erlaubte, saß ich mittags mit ihr auf dem Bänkle am See und fütterte die Möwen, während sie mit ihren Freundinnen tratschte. Sie alle kannten mich und nannten mich auch später noch wie sie: „s’Bernhärdle“. Sie sollte mich eigentlich nur stundenweise hüten, ebenso wie auch schon die Geschwister, wenn die Eltern keine Zeit hatten. Doch, wie ich mich erinnere, war sie immer nur für mich da. Und sie verwöhnte mich, wo immer sie konnte, trotz ihrer bescheidenen Verhältnisse. Täglich durfte ich mir bei Frau Schultheiss im Kolonialwarenladen nebenan eine Banane kaufen. Und es gab nichts Besseres für mich als das Rührei, das Karline für mich machte. Eines Tages kam ein Glasbläser in den Stadtgarten. Sie ging mit mir hin, um die Wunderwerke zu bestaunen, die er aus nichts hervorbrachte. Alles, was er machte, war für sie natürlich unerschwinglich teuer. Aber ich durfte mir dennoch ein Blumenväschen bei ihm bestellen und zusehen, wie er es aus einem Glasstengel hervorzauberte. An Weihnachten errichteten ihre Hauseigentümerinnen für sie einen Tannenbaum in ihrem Zimmer. Statt der sonst üblichen Glaskugeln bestand der Schmuck bei ihr nur aus in Silberpapier eingewickelten Walnüssen, den Silberfäden und einigen Kerzen. Nur mit mir zündete sie den Baum an, und das war dann eine ganz intime Weihnachtsfeier. Karline sang, während ich ihr Geschenk unter dem Baum auspackte. Einmal war es ein kleiner Tischpuppenwagen mit einem Püppchen darin. Meine Mutter regte sich darüber auf: „Was schenkt dir die alte Kuh denn so ein Mädchenspielzeug!“ Und es verschwand sogleich, als ich es nach Hause brachte. Die Beziehung zwischen Karline und mir litt darunter nicht. Wir gingen im Frühjahr, Sommer und Herbst täglich zusammen zu den Büschen am Hotel Schiff, um Blätter für ihr Rotkehlchen zu pflücken. Ich kümmerte mich mit ihr zusammen um es und brachte es wie sie zum Zwitschern. Es war auch für mich ein trauriger Tag, als es eines Morgens tot in seinem Käfig lag. Die größten Anforderungen stellte ich an sie, wenn wir zusammen „Pfarrerles“ spielten. Ein Stuhl diente als Altartisch, eine Weihnachtskarte mit einer Weihnachtskrippe als Altarbild. Ich war der Pfarrer und hielt die Messe. Karline war der Mesner, der die Kerze anzündete und mir Wasser als Messwein einschenkte. Aber sie repräsentierte vor allem auch die Gläubigen und musste an deren Stelle singen und laut beten.
Als ich etwas mehr als 4 Jahre alt war, bauten die Eltern ihr neues Haus in der Oberstadt. Wir zogen um, und ich musste in den Kindergarten. Doch ich ging immer noch, wann immer ich konnte, zu Karline. Erst ab 1940, als sie krank wurde, war ich nur noch ganz selten bei ihr. Meine Mutter musste mich schließlich sogar zwingen, sie hin und wieder zu besuchen und ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu bringen. Sie war nun zu alt für mich. Auch lag sie fast nur noch im Bett. Schon lange hatte ich bemerkt, wie dünn ihr graues Haar geworden war, dazu das schlecht zusammengesteckte Haarnest und diese Runzeln im Gesicht, die fahle Haut, die zittrigen Hände. Sie ging, wenn überhaupt, nur noch tief gebückt. Am meisten störte mich aber der Altweibergestank im ganzen Zimmer. Einige Male ging die Mutter auch ohne mich zu ihr.
In ihrer Vergangenheit war sie ja Köchin im „Wilden Mann“ gewesen, das will etwas heißen. Der „Wilde Mann“ war das vornehmste Hotel am Ort, wunderbar gelegen, direkt am Wasser, weithin bekannt auch für seine Küche. Karline war dort sehr geschätzt. Frau Himmelsbach, die Tochter des ehemaligen Wilden-Mann-Wirtes, kümmerte sich in Karlines alten Tagen immer noch hin und wieder um sie, obwohl sie nun schon seit Jahren Lehrersfrau war und das Hotel längst in fremden Händen lag.
Für eine ganze Reihe von Leuten gehörte ich lange Zeit eher zu Karline als zu meiner Familie. Als sie im Februar 1941 starb, wurde ihr Leichnam im Leichenhäusle aufgebahrt. Meine Mutter musste mich zwingen, mitzukommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen und das Weihwasser zu geben. Sie war die erste Tote in meinem Leben, die ich sah. Ich erkannte sie nicht wieder. Ich war erst vor einem Monat Ministrant geworden und konnte an sich noch gar nicht ministrieren, schon gar nicht bei einer Beerdigung. Aber der Kirchenmesner, der meine Familie sehr gut kannte, bestimmte: Du wirst bei Karlines Beerdigung ministrieren. Das geschah dann auch. Ich musste nur das Weihrauchschiffchen halten und beobachtete am Rand des Grabes die ganze Beerdigung als einen sehr fremdartigen Vorgang, der mit der Person, wie ich sie kannte, gar nichts zu tun hatte. Später wunderte ich mich über meinen gefühllosen Abschied. Wie konnte das sein, wo diese Person doch Jahre hindurch alles für mich gewesen war. Was ich als Kind überhaupt nicht begriffen habe, das war das Alleinsein von ihr und dass sie vielleicht meinen häufigeren Besuch gerade in den letzten Lebensjahren gebraucht hätte. Doch musste ich mir daraus ein Gewissen machen?
4. Rückkehr in die Unterstadt
Der große Gewinn für mich, den der Neubau des Elternhauses in der Oberen Lehre mit sich brachte, waren die Freunde: 2 gleichaltrige Buben und 2 Mädchen aus dem Nachbarhaus. Wir gingen zusammen in die Kinderschule und waren sehr schnell untrennbare Spielkameraden. Die Unterstadt war ihnen fremd. Eines Tages hatten sie den Wunsch, dass ich sie ihnen zeige. Wir entschlossen uns an einem Nachmittag im Frühling 1938 dazu, als ich zum Spielen zu ihnen durfte. Wir gingen zunächst zur Schiffslände und beobachteten, wie das Dampfschiff von Konstanz anfuhr, an- und wieder ablegte, und wir folgten dem Schiff auf der großen Südmole bis zur Nebelhupe, wo die Schiffswellen heftig gegen die Steinblöcke schlugen, welche die Mole auf der Südseite befestigen. Wir rannten den Möwen nach, die sich auf das Geländer setzten und sowie irgendwo ein Essensrest lag, darauf zuflogen und kreischend miteinander stritten, bis eine ihn erhaschte und damit davonflog.
Doch interessant war für uns eigentlich nur das Hafenbecken auf der anderen Seite, wo Schiffe nur bei stürmischer See einfahren und landen durften. Da lagen die Gondeln, Fischerboote und in der Ecke neben der Ostmole, die das Becken begrenzt, sogar ein Zollboot. Das wollten wir uns ansehen, und so gingen wir zur Ostmole. Doch auf ihr fühlte man sich unsicher. Sie hatte nur auf der Ostseite ein Geländer, und die Molenoberfläche hatte ein rundes Profil. Man bekam auf der Seite ohne Geländer Angst, mit einem Fehltritt ins Wasser zu stürzen. Und wir hatten ja auch Lust, uns in unserem Übermut gegenseitig zu schubsen.
Schließlich gingen wir zur großen Hafenrampe vor dem Seehof. Dort konnte man sich gemütlich hinsetzen und auf der Seite zum Rieschen hin sogar bis zum Wasser hinabsteigen. Aber dort war im Augenblick Fischer Klingenstein mit seinen Fischernetzen beschäftigt und belegte mit ihnen die ganze Ecke bis hinab zum Wasser. Doch auf der anderen Seite Richtung Schiffslände konnte man auf dem zum Wasserspiegel hin abfallenden Mauerstück auch ans Wasser gelangen. Dort lagen mehrere Gondeln, ein abgetakelter Segel und ein Fischerboot. Wahrscheinlich gehörte es ebenso wie die Gondeln dem Fischer. Es war an diesem Nachmittag schönstes Badewetter aber noch keine Badesaison. „Ist das Wasser nicht schon warm genug zum Baden?“ fragten wir uns. „Ich will probieren, ob es schon warm ist!“ erkühnte ich mich vorzuschlagen und weil ich den Vorschlag gemacht hatte, musste ich ihn auch ausführen. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und tastete mich, nicht weit vom Fischerboot entfernt, auf der abschüssigen Rampe langsam nach unten, bückte mich am Rand, um ins Wasser zu greifen. Da geriet ich mit meinem vorderen Fuß auf den grünen Moosschlitt, der den Wasserrand säumte. Ich rutschte aus und glitt ins Wasser. Ich rutschte auf der Schräge weiter hinab und versank im Wasser bis zur Hüfte, dann bis zur Schulter. Unter den Füßen hatte ich keinen Boden mehr und begann zu zappeln, und ich schrie: „ich ertrinke“. „ Schwimmen!“, riefen die Freunde zurück. Aber das konnte ich noch nicht. „Hilfe“, schrie ich weiter. Die Freunde hatten offenbar schon begriffen und haben den Fischer gerufen. Der war sofort zur Stelle und rief mir zu: „Halte dich am Boot! Halte dich daran fest, ich ziehe dich heraus.“ Er manövrierte das Boot mit der Leine, so dass es sich unmittelbar neben mir befand. Ich hielt mich daran fest. Und er zog mich mit dem Boot nach vorne und half mir schließlich