Kindheitserinnerungen aus Meersburg. Bernhard Nessler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernhard Nessler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347030589
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das erste Photo, das es von mir gibt, und das einzige in meinem Geburtshaus, in seiner Wohnung aufgenommen wurde. Die beiden Familien verstanden sich nicht. Vor allem die beiden Mütter konnten sich nicht leiden und haben sich später, nachdem die beiden Familien an verschiedenen Orten wohnten, niemals besucht.

       II. Das Unterstadtmilieu

      Da ich in der Unterstadt geboren und in den ersten kindheitlich prägenden Jahren dort aufgewachsen bin, war ich eigentlich ursprünglich nicht nur ein Meersburger, sondern auch ein Unterstädtler. Nicht wenige Leute, die ebenso da wohnten, bestanden auf dieser speziellen Identität. Die Unterstadt war mein Kindheitsmilieu, und sie war das Milieu, in das die Eltern mit allem, was sie waren und unternahmen, voll integriert waren. Vater war daselbst aufgewachsen, und das Haus, in dem ich geboren bin, war ursprünglich schon sein Elternhaus gewesen, und er hat es zusammen mit einem Scheunenhaus auf der anderen Straßenseite und einem Rebgrundstück an der Ausfallstraße Richtung Uhldingen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters im Jahr 1924 von seiner Mutter geerbt.

      Es ist ein Jammer zu sehen, wie heute dieser Stadtteil zu einem bloßen Napviertel für Tagestouristen verkommen ist, fast nur noch mit Andenkenläden und Fastfoodlokalen und Trinkbars. Für die Bürger der Stadt war die Unterstadt lange der wichtigere Stadtteil. Sie ist buchstäblich auf Sand gebaut. Die südliche Hälfte ihres Areals wurde im 14.Jh. aufgeschüttet. Diese Aufschüttung hat es erlaubt, eine Marktstraße mit zwei Toren anzulegen, was bald schon die Verleihung des Marktrechts und etwas später des Stadtrechts zur Folge hatte. Ein sehr starkes bürgerliches Engagement machte hier also aus dem vorherigen unbedeutenden Fischer- und Rebleutedorf am Burgabhang eine Stadt. Die mächtigen Bischöfe von Konstanz, die als Burgbesitzer zunächst in der Stadt nur als Gäste präsent waren, honorierten diese Entwicklung durch die Errichtung etwa der Unterstadtkapelle, die lange Zeit ein selbständiges religiöses Zentrum war auch noch neben der Stadtpfarrei in der Oberstadt. Als sich die Bischöfe in der Reformationszeit aus Konstanz nach Meersburg zurückzogen und in der Oberstadt ihre Verwaltungsgebäude und Paläste errichteten, bezogen die Prälaten ihr Domizil in der Unterstadt im heutigen Hotel Schiff.

      Soviel zur Vorgeschichte der Unterstadt. Als ich geboren wurde, war sie immer noch ein sehr selbständiger und durch ein lebhaftes bürgerliches Leben geprägter Stadtteil. Hier gab es alle Geschäfte, die man brauchte, und meistens sogar mehrfach- „Läden“ sagte man, nicht Geschäfte, das Wort „Laden“ bezeichnete die mitbürgerliche Funktion. Es gab zwei Metzgerläden, zwei Brotläden, vier Kolonialwarenläden, zwei - etwas später sogar drei Friseure und eine größere Zahl von Gasthäusern. Auch mehrere für die ganze Gemeinde wichtige Einrichtungen befanden sich in der Unterstadt, so etwa die Post und das Notariat, der Winzerverein und in Bezug auf meine Geburt nicht zu vergessen, die Wohnung von Frau Haller, der einzigen Hebamme weit und breit.

      Jeder „Laden“ in der Unterstadt hatte dabei eine gewisse Originalität, was neben den Baulichkeiten und den Einrichtungen die atmosphärische Eigentümlichkeit des Stadtteils mitbestimmte. Diese Originalität hing vor allem auch mit den Persönlichkeiten zusammen, die einen „Laden“ führten. So ziemlich alle waren als Personen Originale und prägten sich als solche einem Kind ganz besonders ein. Arthur Zwick etwa, einer der Kolonialwarenhändler, ein dicker Mann mit Glatzkopf, einem Spitzbart und einer randlosen Brille und auch immer mit Krawatte und in dunklem Anzug. Öffnete man die Türe zum Ladenlokal, so schepperte die Ladenschelle, und schon trat er ganz geheimnisvoll aus dem Dunkel des Ladens hervor und fragte: was willst du? Lieber wurde ich von ihm bedient als von seiner noch dickeren Frau. Doch von beiden bekam man am Ende ein rundes farbiges „Zickerle“. Ganz anders war alles bei Druwe nebenan, wo man gewöhnlich die Nudeln kaufen musste, ein großer schlanker Mann mit straff nach hinten gekämmtem Haar, und auch er immer mit Anzug und Krawatte. Er war Protestant, was damals in Meersburg eine Seltenheit war. Das hieß aber einfach, man sah ihn nie in der Kirche. Für ein Kind war er immer auf Distanz, ganz im Gegensatz zu seiner zierlichen kraushaarig fast schon grauen Frau, bei der man sich fast liebevoll angesprochen und bedient fühlte. In diesem Laden bekam man beim Einkaufen ein echtes in Glanzpapier eingewickeltes Bonbon. Eine wiederum andere Atmosphäre herrschte im Kolonialwarenladen Süß und Schneider, wo oft Helmuth, der Sohn von Frau Schneider, einen bediente. Er und sein ganzer Laden repräsentierte die jüngere Generation. Er trug eine weiße Mantelschürze. Doch man sah nicht, womit er sich je schmutzig machen konnte. Die Waren lagen hier wohlgeordnet in einem Wandregal oder auf dem Ladentisch. Man musste zeigen, was man wollte und bekam es eingepackt und ohne jederlei Schnörkelei ausgehändigt.

      Ähnlich unterschiedlich wie die Kolonialwarenhändler waren die Bäcker. „Der Mayer“ war nicht nur Bäcker, sondern auch der einzige Konditor am Ort, „Feinbäcker“ sagte man. Und es gab bei ihm Torten, die man alle gerne gehabt hätte, aber niemals bekam. Eine Anisschnitte durfte ich mir da manchmal kaufen, zusätzlich zur Hefe, derentwegen ich in diese Bäckerei geschickt wurde. Der ganze Laden roch immer nach Anis. Geschenkt bekam man da nichts. Der Kauf, bloß für 10 Pfennig Hefe, entsprach natürlich auch nicht dem Niveau dieses Ladens. Im Nebenzimmer gab es ein Café. Ich betrat es nie, beobachtete aber durch die Glastüre, wie Leute dort Kaffee tranken, dem Duft nach richtigen Kaffee, während es zu Hause ja nur Malzkaffee gab. Die Bäckersfrau hinter der Tortenvitrine blickte auf mich herab. „Was willst du denn?“ Und sie gab mir für meine 10 Pfennig die Hefe ohne ein weiteres Wort. Was hatte man als gewöhnlicher Leute Kind da überhaupt zu suchen? Beim Bäcker Thum dagegen, wo die Eltern unser Brot backen ließen, und wo alles ein bisschen schmuddelig war, bekam man oft gratis eine Brezel. Und sowohl der alte dicke Thum mit seiner weiß-schwarz karierten Bäckerhose und seiner mehligen Bäckerschürze als auch Max, der Sohn, den ich duzte, begrüßten mich mit „Na, Bernhärdle, wie geht es dir?“ Die Kinder waren in vielen Familien die Personen, die für Dinge des täglichen Gebrauchs zum Einkaufen geschickt wurden. Die Eltern hatten gewiss gewöhnlich selbst keine Zeit dazu. Doch der andere Grund war, dass sie oft kein bares Geld hatten. Kindern gab man sowieso kein Geld in die Hand. Sie bekamen ja auch kein Taschengeld. Mit ihnen ließ man selbstverständlich anschreiben und brauchte sich dafür nicht zu schämen.

      Ein besonderes Verhältnis hatten wir Kinder zu unserem Frisör, zu Rübelmann. Wir mussten alle paar Wochen immer nur zu ihm. Die Eltern ließen uns keine Wahl, denn er war unser Nachbar. Und mit Buben beschäftigte sich da die Frau, die Rübelmännin. Jedes Mal musste man warten, bis sie im Damensalon gerade frei war. „Komm, jetzt bist du dran!“ hieß es dann. Und sie setzte einen auf einen Drehstuhl ohne Lehne, wirbelte ihn hoch, so dass man keinen Boden mehr unter den Füssen und überhaupt keinen Halt mehr hatte, band einem ein riesiges Frisiertuch um den Hals und fing gleich an, mit ihrem Handhaarschneider auf dem Kopf herum zu schnippeln. Man schloss die Augen, und an allen Stellen auf dem Kopf zog, riss und biss es. Manchmal zwickte sie einen auch ins Ohr. Es gab für einen Jungen nur eine Frisur: den Bubikopf. In Wirklichkeit war es eine Glatze, bei der nur vorne über der Stirn ein Schnipsel Haare stehen blieb - kein Ort mehr, an dem sich Läuse einnisten konnten. Wie ein getretener Pudel rutschte man am Ende vom Stuhl herunter und floh aus der Frisierstube, so schnell man konnte. Das Bezahlen regelten sowieso die Eltern.

       III. Unterstadtidentität

      Ein Unterstädtler sein, das war für mich, ohne dass ich ein Bewusstsein davon hatte, meine Identität, wobei das mehr bedeutete als: die Leute kennen. Man sagte in der Oberstadt, die Unterstädtler seien ein Volk für sich. Gegenüber einem Oberstädtler war man in der Tat wie ein Auswärtiger.

      Ich war zwar die ersten vier oder fünf Lebensjahre an sich im elterlichen Haus in der Spitalgasse zu Hause, verbrachte aber in diesen Jahren die meiste Zeit bei Karline. Die Eltern hatten eine Landwirtschaft, hatten 2 Kühe, vor allem aber Reben, in denen das ganze Jahr hindurch immer viel zu tun war. Vater war außerdem im Zweitberuf Güteraufseher für das Rebgut des Markgrafen von Baden. Die Eltern hatten wenig Zeit für die Erziehung der Kinder. Mit den beiden älteren Geschwistern war die Erziehungslast wohl noch einigermaßen überschaubar. Und sie mussten ja auch schon im frühesten Alter mithelfen, wo immer es ging. Für mich dagegen, dem viel später geborenen dritten Kind, suchte man sogleich eine Kindsmagd, die mich tagsüber betreute und die mich so eigentlich auch aufzog. Das war Karline. Sie wohnte nur einige Häuser weiter in der Seestraße. Auch bei ihr blieb ich ein Unterstädtler, bekam aber vieles, was sich in der Familie abspielte, nicht