Trotz der vielen netten Bekanntschaften und dem wohligen Gefühl, nicht alleine sein zu müssen, wollte ich nach wenigen Tagen wieder weiterziehen. Gerne hätte ich meinen Weg in den Norden fortgesetzt, aber hatte dummerweise bei der Flugbuchung nicht daran gedacht, einen anderen Abflugort zu wählen und somit war klar, dass ich wieder zurück nach Melbourne musste. Also war für mich die Zeit gekommen, wieder umzukehren, mir auf dem Rückweg noch ein paar Orte anzusehen, die ich noch nicht besucht hatte und entschied ich mich zunächst in den circa 200 Kilometer entfernten Surferort Byron Bay zu fahren. Ja, ich wollte nun endlich und unbedingt bei einem Surfkurs das Wellenreiten erlernen.
Nachdem ich das erste Mal auf einem wackligen Brett gestanden hatte und mir ein ziemlich abgespacter Surflehrer das Surfen beigebracht hatte, wusste ich, dass das nicht das letzte Mal für mich gewesen sein sollte. Aber nicht bloß diese Ausbilder waren verrückt, sondern beinah jeder, dem ich in diesem Örtchen begegnete, schien auf irgendeine Art irr zu sein, so auch ein Israeli, dem ich im Hostel begegnete und der mich fragte, ob ich mit ihm gemeinsam in seinem Schlitten nach Sydney fahren wolle. Dennoch kam der Typ wie gerufen, denn ich musste ja schließlich in dieselbe Richtung und der Gedanke, einmal nicht mit dem Bus durch die Landschaft fahren zu müssen, ließ mich zusätzlich grinsen. Also sagte ich ihm spontan zu und schon am darauffolgenden Tag stieg ich in seinen alten, verrosteten Wagen. Die Karre war nicht nur fast komplett durchgerostet, sondern schlimmer noch war die Tatsache, dass der Auspuff kaputt war und der gesamte Gestank ins Fahrzeug geblasen wurde. Trotzdem war die Zeit mit dem Kerl aus Israel, das „an-der-Küste-Entlangcruisen“, das „im-Zelt-an-abgelegenen-aufregenden-Orten-Übernachten“ und das „faule-Koalas-Beobachten“ einfach großartig sowie abenteuerlich und das Gefühl absoluter Freiheit wuchs dabei von Tag zu Tag mehr.
Wir verbrachten eine ganze Woche zusammen, bis wir am Bondi Beach wieder getrennte Wege gingen und ich genau in diesem Moment das erste Mal die Emotion verspürte, alleine sein zu können. Etwas mehr als zwei Monate nach meiner Ankunft in Australien waren inzwischen vergangen und das erst kürzlich aufgekommene Gefühl bereitete mir tatsächlich neue Räume für ganz andere Eindrücke. Plötzlich nahm ich meine Umwelt anders wahr und war nicht mehr auf der ständigen Suche nach Reisebegleitungen und Unternehmungen mit anderen Menschen. Ich begann es zu genießen, mich alleine auf eine Parkbank zu setzen, das Treiben der Leute zu beobachten und erlebte nicht nur deshalb Australien aus anderen neuen Blickwinkeln. Dadurch, dass ich bewusster umherblickte, bemerkte ich nicht nur die positiven Dinge, also wie cool und lässig die meisten Australier doch waren, sondern entdeckte auch die unschöneren Flecken, wie jene arme, missbilligenden Zustände, an welchem die meist obdachlosen Aborigines hausen mussten.
Mir fiel auf, dass diese nicht allzu viel Anschluss am „normalen“ gesellschaftlichen Leben der Australier hatten und dass sie ausgeschlossen, verachtet und so gut wie auf keinerlei Ebene integriert werden. Mir wurde erzählt, dass sie wenigstens Sozialhilfeleistungen erhalten, wobei sie aber das Geld meist dafür nutzen, um sich mit Alkohol oder anderen Mitteln zu betäuben und dadurch ihre wirklich schlimme Situation weit von sich weg zu schieben.
Der Anblick jener Menschen, welche eigentlich nur verwahrlost in irgendwelchen Ecken herumsaßen, stimmte mich stets traurig und mein Bild von Australien änderte sich dadurch. Mir wurde bewusst, dass vieles in diesem Land gar nicht so toll ist, wie ich es mir selbst zu Beginn meiner Reise noch vorgegaukelt hatte und dass man sich sogar in manchen Situationen in Deutschland freier bewegen kann. Ich fand es zum Beispiel gar nicht lustig, dass sich vor den meisten Bars oder Kneipen fast immer grimmige Securitys platzierten und mir den Eintritt in die dunkle Stube verweigerten, weil ich entweder eine kurze Hose trug oder aber Flip-Flops unter den Füßen hatte. Auch den vielleicht etwas lächerlich klingenden Punkt, dass man sich dort nirgends in der Öffentlichkeit mit einer Flasche Bier in der Hand blicken lassen durfte, empfand ich als eingrenzend.
Sicherlich kann man unterschiedlicher Meinung in Bezug auf das Thema Alkohol an öffentlichen Orten sein, allerdings in gewissen Momenten fühlte ich mich hier in meiner Freiheit etwas eingeschränkt. Die letzten zwei Wochen meiner Reise traf ich meinen jüngeren Bruder Jonas und seinen Kumpel in Sydney, die nach einer längeren Tour durch Neuseeland vor ihrem Rückflug nach Deutschland nochmal australischen Boden betreten wollten. Gemeinsam verbrachten wir zwei Nächte im berüchtigten Stadtviertel Kings Cross und besuchten das Olympiastadion, das nur wenige Monate nach dem gewaltigen Weltspektakel schon wieder seinen ganzen Glanz verloren hatte, so als läge die Olympiade bereits mehrere Jahre in der Vergangenheit. Anschließend reisten wir weiter über die langweilige Hauptstadt Canberra und dessen Regierungsviertel über Melbourne und bis zur verregneten Apollo Bay, die kurz vor der Great Ocean Road liegt.
Nach einer Nacht bei strömendem Regen im Zelt entschieden wir uns für die letzten Tage in der Apollo Bay zu bleiben, mieteten einen geräumigen Caravan und schauten relaxt dem kommenden Herbst und seinen Veränderungen entgegen. Und da in Deutschland bereits der Sommer vor der Tür stand, freuten wir uns alle drei wieder auf „Good Old Germany“. Mein Bruder und sein Kumpel reisten schon drei Tag vor meinem Rückflug ab und somit durfte ich die letzten Tage nochmal alleine sein und empfand diese Angelegenheit überhaupt nicht mehr unangenehm.
Am 25. Mai ging es wieder über den großen Ozean zurück nach Deutschland und ich hockte abermals in einem großen Flieger, verzichtete aber jenes Mal auf die Antiübelkeitstablette. Stattdessen ließ ich nach dem Start das Mediaprogramm unberührt, lehnte mich zurück und dachte darüber nach, ob mich diese Reise vielleicht sogar ein wenig verändert haben könnte. Die Zeit über den Wolken verging beim Rückflug bedeutend zügiger als der Hinflug und ich freute mich, dass mir auch ohne das Medikament nicht ein einziges Mal übel wurde.
Zurück auf deutschem Boden und nachdem ich dann meinen Rucksack vom Band gepflückt hatte, war ich nicht bloß froh, mein weniges Hab und Gut wieder in den Händen zu halten, sondern viel mehr glücklich darüber, dass ich mit vielen wunderbaren, ergreifenden und unvergesslichen Momenten zurück nach Hause kommen würde. Oder habe ich meistens meinem Tagebuch die eher wenig erfreulichen Momente anvertraut, um auf irgendeine Art und Weise Dampf abzulassen?
In jenem Jahr sollte noch ein weiterer gedenkwürdiger, aber leider auch schrecklicher Moment dazukommen, ein Augenblick, den ich zum Glück nur aus weiter Ferne erlebte. Es war der 11. September 2001: der Tag, an dem die Welt aus ihren normalen Bahnen gerissen wurde … eindeutig. Dieser hässliche Anschlag auf die zivile Bevölkerung bedeutete sowohl einen riesigen Einschnitt für die Freiheit, als auch eine Bedrohung der Sicherheit des gesamten Planeten, welche nun zu Recht in Frage gestellt werden durfte. Ja, ab diesem Datum gab es auf die Frage nach der Freiheit plötzlich ganz andere Antworten auf der Welt. Natürlich wird sich wohl ein jeder an diesen Tag erinnern und wahrscheinlich wissen, was er an diesem so gemacht hat, denn so ist es leider mit grässlichen Momenten. Nicht nur aufgrund des schrecklichen Ereignisses kam erneut eine Überlegung in mir auf: Kann man wirklich sagen, dass man im großen, starken, freien Amerika und im oft selbst erklärten freiesten Land der Erde, wo jeder eine Waffe tragen darf, um das Eigentum zu schützen, wirklich frei ist?
Ja, zu dieser Zeit stellte ich mir viele Fragen zur Freiheit und nicht bloß zu meiner eigenen. Die kommenden Jahre blieb ich meistens in Deutschland, denn das Studium folgte und beschäftigte mich selbstverständlich sehr. Auch meiner damaligen Freundin zuliebe hielten wir uns gemeinsam lieber mit kleineren Reisen in Europa auf, aber in einigen und vielleicht sogar in mehreren Momenten in jener Zeit überkam mich hin und wieder das Verlangen nach einer nächsten und größeren Reise, jedoch der schnöde Mammon, der noch schnarchte, hielt mich leider davon ab und nicht nur der. Zudem beschlich mich manchmal ein fremdes Gefühl, in Zukunft vielleicht doch lieber sesshaft zu bleiben. Je mehr ich hingegen in mich hineinhorchte, umso stärker erkannte ich, dass diese unvertraute Emotion keine selbstbestimmte war und ich entdeckte, dass ich das einfach nicht bin. Und dennoch sollten sagenhafte neun Jahre vergehen, bis ich keinen Bogen mehr machen wollte vor der immer größer werdenden Sehnsucht nach der Ferne und schon bald sowie endlich war ich in der Lage dazu, die nächste große Reise anzutreten. Aber noch bevor es dazu kam,