Plötzlich ging alles ganz schnell. Julie schrie auf, ich drehte mich um und sah gerade noch, wie sie hinfiel. Einige Meter vor uns rannte jemand davon.
«Meine Tasche!», rief Julie.
Bevor ich begriff, was los war, jagte Leo hinter dem Flüchtigen her. Instinktiv nahm ich die Verfolgung auf. Ich konzentrierte mich auf Leos weisses T-Shirt, das immer wieder aufblitzte. Er verschwand um eine Hausecke. Als ich die Stelle erreichte, sah ich, wie er Richtung Fluss rannte. Obwohl ich jeden Muskel nach dem anstrengenden Tag spürte, hatte ich keine Mühe, ihm zu folgen.
Nun sah ich den Mann, der Julie die Tasche entrissen hatte. Er war rund hundert Meter vor uns. Als er beim Fluss ankam, drehte er abrupt ab und spurtete wieder zum Bahnhof zurück. Vor ihm lag eine stark befahrene Strasse, die Fussgängerampel leuchtete rot. Er beachtete sie nicht, sondern rannte darauf zu. Ich stolperte beinahe, als ich sah, wie ein Fahrzeug so heftig bremste, dass es ins Schlingern geriet. Leo zögerte keinen Moment. Er folgte dem Dieb, der zwischen den Autos wesentlich langsamer vorankam. Am Strassenrand erstarrten die Fussgänger. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich eine Frau entsetzt die Hand vor den Mund hielt. Und dann hörte ich das Tram. Mit schrillem Geläute näherte es sich. Ich nahm gerade noch wahr, wie Julies Tasche gegen das blaue Metall klatschte, bevor der Fremde dahinter verschwand. Leo prallte gegen die Seite des Trams.
Ich eilte auf die Strasse.
Leo sprang auf und rieb sich die Schulter. «Nichts passiert.»
Aus dem offenen Fenster der Führerkabine ertönte lautes Fluchen. Ich legte meine Hand auf Leos Arm und wollte ihn zum Trottoir führen, doch er riss sich los, als hätte er sich an mir verbrannt. Ich wusste nicht, ob er sich ärgerte, weil der Dieb entkommen oder weil ihm sein Sturz peinlich war.
«Du hättest dich um Gjyle kümmern sollen!», warf er mir vor und stapfte davon.
Ich marschierte eingeschnappt zurück. Chris versuchte hilflos, Julie zu trösten.
«Er ist weg», sagte ich. «Er war zu schnell. War etwas Wichtiges in der Tasche?»
«A-alle Unterlagen», jammerte Julie.
«Ist das alles?», fragte ich. «Kein Geld?»
Julie schüttelte den Kopf und zeigte auf ihre Hosentasche.
«Handy?»
Julie nickte. Sie wirkte so verletzlich, dass ich meinen Arm um sie legte.
«Der Freundin meines Vaters ist das auch passiert», nuschelte Chris.
Ich war überrascht, dass er in ganzen Sätzen sprechen konnte. Julies Interesse war geweckt. Sie wollte wissen, ob man den Dieb je erwischt hatte.
Chris zuckte mit den Schultern. «Einige Monate später.»
«Immerhin», sagte Julie.
«Aber nur, weil sie Heroin in der Tasche hatte.»
«Die Freundin deines Vaters?», fragte ich. Das war spannend.
«Sie wusste es nicht.» Er verstummte, als Leo zurückkam.
Kopfschüttelnd erklärte Leo, dass er die Bahnhofshalle durchkämmt, den Dieb aber nirgends gefunden habe. Er untersuchte Julies Ellenbogen, den sie sich beim Sturz aufgeschürft hatte. Es war nur eine oberflächliche Verletzung. Trotzdem wollte Leo die Polizei einschalten.
Mich durchzuckte es wie ein Blitz. «Polizei?»
«Wir müssen Anzeige erstatten», sagte Leo.
«Das bringt sowieso nichts!», rief ich.
Alle starrten mich an.
«Die Bullen werden uns nie im Leben glauben! Eher geben sie uns die Schuld an allem», stiess ich hervor.
«Da ist was dran», murmelte Chris.
«Christophers Vater ist Polizist», erklärte Julie.
Leo schüttelte verständnislos den Kopf.
Ich merkte, wie ich zitterte. Ich musste weg. Vielleicht hatte jemand schon die Bullen gerufen. Von Weitem sah ich einen Bus. Wenn ich mich beeilte, könnte ich ihn erwischen. Ohne mich zu verabschieden, spurtete ich zur Treppe und bahnte mir einen Weg durch die Menschen. Ich erreichte den Bus, als der letzte Passagier einstieg. Sechs Haltestellen später stieg ich aus und setzte mich ins Wartehäuschen. Meine Mutter war bestimmt noch zu Hause, es war erst halb sieben. Auf ihr gequältes Gesicht hatte ich überhaupt keine Lust.
«Schlechter Tag?», fragte eine freundliche Stimme.
Ich hatte die Prostituierte gar nicht bemerkt. Mein erster Impuls war, den Kopf zu senken und so zu tun, als hätte ich nichts gehört.
«Haben wir alle ab und zu», sagte sie.
«Ich in letzter Zeit ziemlich oft», platzte es aus mir heraus. Unglaublich, jetzt sprach ich schon mit einer Prostituierten. Wenn mir das jemand vor einem Jahr gesagt hätte, hätte ich laut gelacht. Aber vor einem Jahr hätte ich auch nicht geglaubt, dass ich in diesem heruntergekommenen Stadtteil leben würde. Ich musterte die Prostituierte verstohlen.
Sie nickte langsam. «Sieht fast so aus.»
Ein BMW hielt neben uns, und das Fenster wurde heruntergelassen.
Die Prostituierte gab mir einen sanften Klaps.
Ich zuckte zusammen. Wen hatten ihre schmutzigen Hände sonst noch berührt?
«Verschwinde», sagte sie, «du bringst meine Kunden auf dumme Gedanken.»
Tatsächlich starrte der Mann im BMW mich an. Ich sprang auf, stolperte über meinen offenen Schnürsenkel und musste mich an der Prostituierten festhalten, um nicht hinzufallen.
«Ganz ruhig, Schätzchen», sagte sie.
Hastig suchte ich meinen Hausschlüssel. Ohne aufzusehen, schloss ich die Tür auf und huschte ins Treppenhaus. Zum ersten Mal störte mich der Uringeruch nicht. Oben erwartete mich meine Mutter bereits. Kaum war ich in Hörweite, begann sie, auf mich einzureden.
«Ich möchte nicht, dass du mit dieser Frau sprichst!»
Kein «Hallo Schatz, wie war dein Tag?»
«Hast du mich verstanden? Überhaupt, wie siehst du denn aus? Nur weil wir … Das alles», sie deutete auf den Raum, «ist kein Grund, so herumzulaufen!»
Ihre Stimme schmerzte mich in den Ohren. Vermutlich hatte ich genau so geklungen, als ich vorhin über die Bullen gewettert hatte. Was dachte Julie nun von mir? Sie war die Einzige in meiner Klasse, die keine dummen Sprüche über mich machte. Mich nicht «Miss Ritz» nannte. Ich wusste nicht, ob ihr der Vortrag so wichtig war oder ob der Diebstahl sie so aus der Fassung gebracht hatte, aber ich bereute es, nicht mehr Mitgefühl gezeigt zu haben. Da ich nichts zum Vortrag beigetragen hatte, konnte ich auch nicht einschätzen, wie viel Arbeit sie investiert hatte. Sogar die Notizen des heutigen Tages waren weg, denn ich hatte natürlich nichts aufgeschrieben.
«Hörst du mir überhaupt zu?», schrie meine Mutter.
Ich erschrak. Klagen war ich gewohnt, doch so schreien hatte ich meine Mutter noch nie gehört. «Ich stell mich unter die Dusche», sagte ich und war froh, als das Rauschen des kühlen Wassers alle anderen Geräusche über-tönte. Ich blieb so lange im Bad, bis ich sicher war, dass Mam zur Arbeit gefahren war. Dann startete ich meinen Laptop und schrieb alles auf, was mir zu «Staub Recycling» einfiel. Je mehr ich schrieb, desto mehr kam mir wieder in den Sinn. Sogar Julies Fragen vom Vormittag und Kaspar Staubs Antworten listete ich vollständig auf. Zum Schluss holte ich die wenigen Unterlagen hervor, die ich selbst eingepackt hatte. Zwischen den Firmenbroschüren lagen einige lose Blätter, die mir nicht bekannt vorkamen. Es waren Rechnungen. Hatte Julie die verlangt? Als Muster? Ich faltete sie und steckte sie in die Kundenbroschüre. Anschliessend suchte ich die Adressliste hervor, die ich am ersten Schultag